Foto: Jungmännergelüste in schwerer Zeit. Max Friedrich Schäffer und Lianghua Gong als Söhne in der Europäischen Erstaufführung von "Dog Days" © Bettina Stöß
Text:Andreas Falentin, am 28. Februar 2016
Eine Dreiviertelstunde vor dem Ende beginnt mit einem Male etwas, wird es schlagartig spannend. Bis dahin gibt es eine zäh fließende Melange zu sehen, scheinbar entstanden mit Hilfe des imaginären Handbuchs „Let’s make an American Opera“. Die üblichen Verdächtigen unter den musikalischen Vorbildern und Stilen grüßen friedlich und durchaus effektvoll kombiniert: Gershwin, Bernstein und Weill, Jazz und Gospel, Filmmusik und Minimal Music, dazu eine Messerspitze Ives und ein wenig vokale Puccini-Vinaigrette, gewürzt mit spätimpressionistisch melancholischer Cello-Kantilene. Die Besetzung des kleinen Orchesters liest sich spannend, aber E-Gitarre und üppig besetzte Percussion ordnen sich 75 Minuten lang der kleinen Streichergruppe und selbst der Klarinette unter, obwohl elektronisch verstärkt gesungen wird. Klangfarbendominator ist das Klavier.
Auf der Bühne geht es, man möchte sagen: typisch amerikanisch, um die Familie. Wiederkehrendes Kraftzentrum der Partitur ist ausgerechnet das Tischgebet. Die Story könnte, krasser und kompakter gefasst, von Sam Shepard stammen oder, warmherziger und vor allem surrealer aufbereitet, von Noah Haidle, basiert aber auf einer Short Story von Judy Budnitz. Um die fünfköpfige Familie ohne Familiennamen herum verödet alles. Die Leute ziehen weg, die Häuser verfallen, das Klima wird zunehmend unwirtlicher. Irgendwann gibt es nichts mehr zu essen. Der Vater geht täglich mit dem Gewehr aus dem Haus. Aber es gibt kein Wild mehr. Ums Haus schleicht ein Hund, der keiner ist, sondern ein Mensch im Kostüm, ein unbehauster Außenseiter, der nicht spricht. Lisa, die Tochter, freundet sich mit ihm an.
Tilo Steffens hat Holzwände auf die Drehbühne gesetzt, die fast ständig in Bewegung ist, und immer neue Blicke freigibt auf die verschiedenen Schlafzimmer, das Wohnzimmer, die Veranda. Langatmig wird die Entwicklung angeschoben. Nienke Otten muss sich als Lisa an zwei riesig ausufernden Monologen abarbeiten, was sie virtuos und vor allem innig tut. Aber die Handlung steht lange still. Auch wenn Melanie Kreuter der Auszehrung der Mutter mit leiser Konzentration bewegend Klanggestalt verleiht und Yoshiaki Kimura den Vater mit scheinbar unerschöpflicher Stimmkraft immer wieder klangschön gegen sein Schicksal anbrüllen lässt. Das Rollen auf der schiefen Ebene geht im Einheitstempo vor sich.
Dann geschieht es. Die Außenwelt bricht ein in Gestalt eines Soldaten. Nohad Becker gestaltet ihn mit großer Präsenz und wunderbar homogenem Mezzosopran. Der Soldat hat die Söhne beim Plündern erwischt und will sie fürs Militär anwerben. Und plötzlich ändert sich der Gestus von David T. Littles Musik, wird schärfer, die musikalischen Ebenen prallen ungeschminkt aufeinander, die E-Gitarre räkelt sich, es werden Sounds zugespielt, die nicht nur dekorativen Zwecken dienen, die Schlagzeuge reißen endlich das Ruder an sich und gestalten den Rhythmus der Abwehrspirale. Die Begegnung zwischen Vater und Soldat ist ein Stellvertreterkampf ums Leben, um die Seelen der Söhne, um den, wie es bei Rilke heißt, „eignen Tod“, den letzten Rest Würde. Es wird tatsächlich existenziell. Im Winter verschlimmert sich die Lage. Die Söhne, deren Haschvorräte aufgebraucht sind, fantasieren über Essen. Es fällt die Bemerkung, dass man in China Hunde äße, und alle drei Männer wollen plötzlich nicht mehr wissen, dass ihr Hausstreuner gar kein Tier ist. Im Moment der Katastrophe ist die Musik unglaublich stark – und die Inszenierung von Klaus Hemmerle hat ihr nichts mehr entgegen zu setzen. Deren Stärke war es über 90 Minuten, klug und dosiert zu erzählen, sensibel die Körpersprache der Figuren auszuformulieren und zu entwickeln, den Bewegungsdrang der Söhne, die Erschöpfung der Mutter, die explosive Depressivität des Vaters, das Auf-sich-selbst-Geworfensein der Tochter. Hier hätte es eines großen oder eines Nicht-Bildes bedurft. Der Soldat unterbindet, dass es zum Äußersten kommt, lässt die Leiche abtransportieren, die Männer deportieren. Lisa bekommt das Hundekostüm. Der Rest ist Sound. Und langer, heftiger Applaus.