Boris Blacher (1903-1975) gehörte als Präsident der Westberliner Hochschule für Musik und Komponist für Musiktheater („Abstrakte Oper Nr. 1“, „Rosamunde Floris“), Ballett („Hamlet“) und Philharmoniker (Paganini-Variationen) zu den wichtigsten Westberliner Musikerpersönlichkeiten. 1966 brachte aber auch Weimar die DDR-Erstaufführung von „Preußisches Märchen“ heraus und nützte das Werk als Beispiel für Systemkritik und „progressive Kunst“ aus der BRD. Bei der Premiere der Westberliner Neuinszenierung am 15. Juni 1974 dann, in der Regie des (am 10. März 2020 im Alter von 85 Jahren verstorbenen) Winfried Bauernfeind, traute man dem Opus jedoch beständige Publikumswirksamkeit zu. Sicher kein Zufall: Für die 2013 von Arthaus wiederveröffentlichte Fernsehverfilmung hatte man Ernst Wurzers Bühnenbild im Studio des Senders Freien Berlin originalgetreu nachgebaut und in der Originalbesetzung mit behutsamen Optimierungen in Szene gesetzt. Der hohe Stellenwert, welchen die Deutsche Oper Berlin dieser Produktion nach wie vor beimisst, lässt sich auch daran ermessen, dass sie in der DVD-Reihe mit Repertoire-Klassikern und neben Rihms „Oedipus“ einen Platz hat.
Wie bei vielen Werken, denen man Mitte ds 20. Jahrhunderts eine große Zukunft vorausgesagt hatte, gab es von „Preußisches Märchen“ danach aber nur vereinzelte Produktionen, etwa am Gärtnerplatz-Theater München und an der Wiener Volksoper, in den letzten Jahren auch in Hof und am Schleswig-Holsteinischen Landestheater. Nicht nur Blacher entdeckte übrigens seinerzeit das Motiv des Störenfrieds mit sozialer Entlarvungsfunktion für die Oper nach 1945: „Preußisches Märchen“ ist das erste Stück einer Reihe mit „Der Revisor“ von Werner Egk, dessen Nachfolger Blacher an der Berliner Musikhochschule geworden war (Uraufführung: Schlosstheater Schwetzingen 1957), Heinrich Sutermeisters „Titus Feuerkopf“ (Uraufführung: Theater Basel 1958) und Hans Werner Henzes „Der junge Lord“ (Uraufführung: Deutsche Oper Berlin 1965), die heute meistgespielte der vier Partituren. Es kann kein Zufall sein, dass deren vier Komponisten mit gemäßigt moderner Tonsprache den Typus der Nummern- bzw. Ensemble-Oper aufgriffen und sich damit vom Donaueschinger und Darmstädter Innovationskurs abgrenzten. In diesem Kontext erhält die Berliner 1974er Neuinszenierung zum Höhepunkt der Wirtschaftswunderjahre und nach der 68-er Bewegung besondere Relevanz – auch durch die Entscheidung für den Regisseur Winfried Bauernfeind, der an der Deutschen Oper Berlin über Jahrzehnte als Spezialist für Spieloper und Uraufführungen Erfolge feierte. Die Deutsche Oper nennt die Aufzeichnung von „Preußisches Märchen“ in ihrem liebevollem Nachruf für Bauernfeind einen „Schatz“.
Blacher und von Cramer orientierten sich weniger an dem Schauspiel Zuckmayers als an Heinrich Manns satirischem Roman „Der Untertan“, dessen DEFA-Verfilmung von Wolfgang Staudte nur ein Jahr vor „Preußisches Märchen“ herauskam und von westdeutschen Medien als Propaganda kommunistischer Kulturpolitik kritisiert wurde. Mit einigen Strichen bringt es die eindrucksvolle Ensembleleistung der Deutschen Oper auf 105 kurzweilige Minuten. Aus heutiger Perspektive gerät die Produktion in die Nähe der „Feuerzangenbowle“ und des „Raubs der Sabinerinnen“, allerdings in Farbe und mit Liebe für die im Studiolicht und umso deutlicheren Kostümdetails (Werner Juhrke), welche auch die aufwändigen Operettenfilme der 1970-er Jahre auszeichnet. Dadurch wird einerseits der Akzent des „Deutschen Märchens“ (Zuckmayer) verstärkt, andererseits die nostalgische Wirkung und die Distanz zur guten Alten Zeit vor 1914. Dem West-Berliner Publikum war in den Jahren der Premiere und der Wiederaufnahme (1981) das vom Charlottenburger Opernhaus nur 28 Kilometer östlich gelegene Köpenicker Rathaus, welches der in der Oper wegen einer Bagatelle entlassene Schreiber Wilhelm Fadenkreutz mit einer unrechtmäßig getragenen Uniform einnimmt und damit das gesamte Hierarchiegefüge des preußischen Verwaltungsapparates kurzfristig gefährdet, in weiterer gefühlter Ferne als die geographisch in viel weiter entfernte Bundesrepublik.
Trotz der realistischen und nur ansatzweise überhöhten Ausstattung haben vor allem die als Mittel der Satire zu verstehenden Wiederholungen von ganzen Szenebausteinen in den Amtsstuben-Szenen wenig Versöhnliches. Am Ende blickt Wilhelm ins Leere, geändert hat sich nichts. Die Tür zum Büro des vor kurzem noch gefährdeten und immer mit Hall unterlegter Bassgewalt singenden Bürgermeisters (Victor von Halem) ist wieder geschlossen. Anders als bei Zuckmayer, der neben der Titel- noch wenige andere Figuren als Sympathieträger einführt, gibt es in Blachers Oper keinen einzigen – außer vielleicht den Jiddisch sprechenden Stoffhändler, dem Wilhelm die verstaubte Uniform abkauft. Persönliche Zuneigung, Loyalität, Wertschätzung werden von den Figuren nur mit strategischem Eigennutz investiert und sind deshalb nicht von Dauer: Das Verlöbnis des Assessors Birkhahn (Donald Grobe) mit der Torschlusspanik hinter gezierter Damenhaftigkeit verbergende Auguste (Gerti Zeumer) währt nur geringfügig länger als das erotische Interesse der auch nicht mehr ganz taufrischen Bürgermeisterstochter Adelaide (Carol Malone) für Wilhelm (Manfred Röhrl), so lange dieser in der Uniform und nicht im staubfreien Anzug steckt.
Ein Muster an nie zum Schwank abgleitender Komödiantik ist, wie Bauernfeind Situationen dezent verstärkt, aber nicht vergröbert. Die von Blacher en travestie besetzten Eltern Wilhelms und Augustes – Vater Fadenkreutz ein Sopran (Lisa Otto: fett), die Mutter ein Bass (Ivan Sardi: graue Vehärmung) – werden mit Ausnahme des den Männern als Trostpflaster jederzeit zugestandene Bierkonsums nicht überspitzt. Eine ganze Geschichte erzählen die stocksteif fallenden, kalkweißen Gardinen in der perfekt gereinigten guten Stube und deren Kontrast zu den anderen ärmlichen Räumen. Die offenbachisch aufsprudelnde Eroberung des Rathauses, bei der sich die (Klein-)Bürger nach dem Ball der Feuerversicherungsgesellschaft ergötzen und welche die Bürgermeistergattin (Barbara Scherler) mit souveräner Grandezza schlichtet, wirken durch die Kamera eher gedrosselt als enthemmt. Jede Keimzelle von Widerstand ist erstickt. Wenn Wilhelm am Ende wieder am Schreibpult steht und noch trüber ins Leere blickt, zeigt die mit Vorsatz nur maßvoll bewegte Inszenierung den Stillstand einer allenfalls kleinen Bewegung. Zum Abspann in Frakturlettern erklingt wie stiller Hohn ein weiteres Mal Blachers gestisch eindeutige Bürokratenmusik.
Der Dirigent Caspar Richter schwor alle auf der Bühne und im Orchester auf eine ariose Grundhaltung ein, die Blachers Stilvielfalt zwischen Weill, liedhafter Melodik und Polyphonie auflichtet. Die deutsche Diktion auch der fremdsprachigen Ensemblemitglieder wie Ivan Sardi, Donald Grobe oder Carol Malone zeigen, welch hohen Stellenwert, die sängerdarstellische Interaktion in den späten Jahren des Übergangs von Aufführungen in deutscher zu Aufführungen in Originalsprache hatte. Gemessen an der knappen Drehzeit gelang das Zusammenspiel von Ensemble und Kamera bemerkenswert gut. Fahrende Einstellungen für die nächtliche Ballettszene, in der Militärs und Bürger sich ihrer von oben verordneten Funktionen entledigen, intensivieren Blachers dramaturgische Absicht, mit Tänzern den Mechanismus des Soldatenstaates zu demaskieren. Das gerät hier fast zur Poesie. In Helmut Baumanns Choreographie ist bereits jene Qualität zu entdecken, mit der dieser viele Jahre später „Cabaret“ und „La cage aux folles“ zu Longrun-Erfolgen im Theater des Westens machen wird.
P.S.: Das Theater Münster kündigt eine Neuinszenierung von „Preußisches Märchen“ in der Inszenierung von Roman Hovenbitzer an (Premiere: 13.03.2021)