Krzysztof Warlikowski lässt das Volk, wenn es im dritten Aufzug die Insel betritt – wie zuvor ein gewaltiger Raum aus edel schimmernden Materialien, der ein bisschen aussieht wie das Festspielhaus von Hellerau oder wie ein Ausstellungsraum, aber auch das Foyer einer futuristischen Bank sein könnte (Bühne und Kostüme: Malgorzata Szcz??niak –, Warlikowski also lässt das Volk mit großen, schönen Mäuseköpfen auftreten, inspiriert von Kafkas letzter Erzählung „Josefine, die Sängerin und das Mäusevolk“. Statt einer Orgie sieht dieses Volk in einem großen gläseren Schaukasten, der immer wieder geheimnisvoll von der Seite hereingefahren wird, sich zu Schrekers überbordend sinnlicher Musik Stummfilme an: vom „Golem“ über „Frankenstein“ und „Phantom der Oper“ bis „Nosferatu“, allesamt Schauergeschichten, in denen junge Mädchen vom bösen, entstellten Mann verführt und heimgesucht werden.
Genau das wird Alviano Salvago (John Daszak in einer Mischung aus Charakter- und Heldentenor) am Ende auch vorgeworfen, obwohl nicht er, sondern der schöne, draufgängerische Tamare Vitelozzo (Christopher Maltman mit sinnlich leuchtendem Bariton), mit seinen Freunden nicht nur viele Mädchen der Stadt auf die Insel entführt und missbraucht hat, sondern auch Alviano die herzkranke Malerin Carlotta (Catherine Naglestad mit üppigem Sopran und dem Stolz einer Tosca) wegnimmt, also die einzige Frau, die ihm Avancen macht und die ihn zu verstehen scheint. Dass Tamare es nicht gewaltsam tut, sondern Carlotta sich ihm im Rausch freiwillig hingegeben hat, entsetzt Alviano umso mehr. Als er dazu noch als einsamer Geiger verspottet wird, der auf der Hochzeit seiner unerreichbaren Liebe spielen muss, ersticht er Tamare. Nachdem Carlotta vergeblich von ihren Tamare phantasierend stirbt, setzt die Musik aus, Alviano stammelt von Fiedel und Kappe und wird wahnsinnig, während ein letztes Mal ein diesmal nicht roter, sondern riesiger weißer Mond – oder ist es eine Sonne? – im Hintergrund aufgeht. Diese „Sonne“ ist das große Kunstobjekt von „Elysium“ und sie ist auf dem Programmbuch aufgedruckt, das dem Volk in die Hand gedrückt wird, aber es gibt auch gläserne „Särge“, in denen zuerst eine schöne schlanke, dann die pralle Venus schlafend ihr Publikum findet (wie 2013 Tilda Swinton im New Yorker MoMa) und schließlich Carlotta sich zum Sterben hineinlegt.
Warlikowski erfindet für die langen, hier ungekürzten Dialogszenen zwischen Alviano und Carlotta (in der sie ihn hier eben NICHT malt) oder Tamare und dem Herzog von Genua im ersten und zweiten Aufzug Parallelhandlungen, die sich im Hintergrund abspielen: Einmal der unwirkliche, immer wieder von Farbe in Schwarzweiß überblendende (Animations-)Film in Slowmotion mit einer Familie, die Mäuseköpfe trägt; das andere Mal als Sinnbild für testosteron-gesteuerte männlich-kämpferisch-dominante Welt der Adligen ein echter Boxkampf zweier muskulöser Farbiger, bei dem der Herzog (ein Prachtkerl mit ebensolchem Bariton: Tomasz Konieczny) als Mischung aus Schiedsrichter und Sportler mitmischt, wie auch Tamare sich in der Pose des Boxers gefällt.
Am schlüssigsten ist die manchmal allzu verrätselte Inszenierung am Anfang und ganz am Ende: Vor gläserner Zwischenwand, auf dem sich das Premierenpublikum bei den Münchner Opernfestspielen in seinen Rängen spiegelt, findet am ovalen Designer-Tisch zu Beginn eine Konferenz von Geschäftsleuten im Anzug statt. Während des großartigen, gewaltigen Vorspiels wird dazu Alviano vom normalen Menschen mit Tuch über dem Kopf, das seine Verunstaltung verbirgt, zum Frack- und Fliegenträger umgezogen und an den Tisch gesetzt. Dann eröffnet er eine Sitzung, in der seinen „Freunden“ das Vorhaben ankündigt, die Insel demokratisieren und darüber mit dem Bürgermeister (Alastair Miles) einen Vertrag schließen zu wollen. Allesamt sind sie mit oft jungen Sängern der Staatsoper wie Matthew Grills oder Andrea Borghini exzellent besetzt; später überzeugen Dean Power und Heike Grötzinger als das abgründige „Buffo-Paar“ Pietro und Martucca sowie viele der 30 Sängerinnen und Sänger, die das Programm als Solist/innen ausweist.
Am Ende flammt das Licht im Zuschauerraum auf und macht uns zu doppelten Zeugen des Geschehens, wenn der Capitaneo di Giustizia in Gestalt des Herzogs unter Mäusekopf dem Volk Einhalt gebietet, das Alviano für seine Schenkung preist. Er fährt sie an: „Ihr krönt mit Blüten den, der da eure Kinder verführt, geschändet – gemordet vielleicht!“ Da stehen dann Boxer, Hotelboys in Livree und die fast nackten Tänzer/innen schon gelangweilt am linken und rechten Portal, während das einzige Mal mit der blutverschmierten Ginevra (Paula Ianic) ein Opfer aus der geheimen Grotte der Insel ans Tageslicht kommt.
Ingo Metzmacher gibt mit den „Gezeichneten“ sein erstaunlich spätes Debüt an der Bayerischen Staatsoper und lässt die üppig schwelgerisch komponierte, irisierend und opalisierend schimmernde oder auch mal grell aufrauschende Musik, die viele Einflüsse amalgamiert hat, in vielen Facetten leuchten. Als Kollektiv der Genueser Bürger glänzt der Chor der Bayerischen Staatsoper nicht minder farbig.