Text:Detlef Brandenburg, am 17. Februar 2012
Wer ist Lohengrin? Dumme Frage das. Denn Wagners Oper lehrt ja unmissverständlich, dass man so besser _nicht_ fragen sollte. Sonst nämlich nimmt der Ritter in lichter Waffen Schein den nächsten Schwan nach Montsalvat, und in dieser Welt ist es vorbei mit seiner Herrlichkeit. Klar, dass der darin enthaltene Appell zur fraglosen Akklamation eines mirakulösen Weltenretters immer mal wieder die Ironie der Interpreten herausgefordert hat, von Heinrich Manns berühmter Parodie in seinem Roman „Der Untertan“ bis hin zu Peter Konwitschnys genialer Denunziation dieser politischen Erlösungsphantasie als Pennälerschwärmerei 1998 an der Hamburgischen Staatsoper.
Gleichwohl: Sie bleibt eine Denunziation. Denn das Raffinierte am „Lohengrin“ ist, dass Wagner, der sich bei der Konzeption seiner Oper ausführlich mit mittelalterlichen Rechts- und Herrschaftsinstitutionen auseinandersetzte, ausgerechnet im so gern parodierten Frageverbot eine politische Utopie versteckt hat, die in gezielter Opposition zur Legitimation politischer Macht im mittelalterlichen Ständestaat steht. Wer im Mittelalter wem was zu sagen hatte, entschied sich nämlich exakt daran, woher er kommt (mit welchen Territorium er belehnt wurde), von welcher Art er ist (Stand der Familie in der adeligen Rangfolge) und welches sein Name ist (Stellung in der familiären Erbfolge). Genau diese Auskunft also verweigert Lohengrin. Seine Herrschaft als „Schützer“ von Brabant (den Herzogstitel lehnt er ausdrücklich ab) stützt er stattdessen darauf, dass die „Mannen“ ihm aufgrund seines Charismas akklamieren, dass die Erbin des Herzogtums seiner Ausstrahlung als Mann (man könnt auch sagen: als Märchenprinz) erliegt und dass er als Kämpfer leistungsfähig ist (wobei auch diese Überlegenheit weniger martialisch als vielmehr märchenhaft erscheint). Lohengrin also legitimiert sich durch seine Aura – eine Wirkung, wie sie Wagner vor allem der Kunst zugeschrieben hat. Damit führt er ein Modell politischer Herrschaft ein, das Herrschaft ohne Politik legitimiert: eine ästhetische Utopie, wie er sie in seinen theoretischen Schriften ausführlich begründet und im „Parsifal“ weiter ausführt.
Wenn aber Lohengrin am Ende zum Gral aufbricht und mit Gottfried den legitimen Erbfolger auf dem Herzogsthron wieder einsetzt, beendet er dieses Experiment. Ortruds politische Tücke und Elsas realitätsfixiertes Misstrauen haben die Vision zerstört, nun muss die Politik, wie unzulänglich auch immer, restituiert werden, weil das Staatswesen sonst Ortruds heidnischer Anarchie verfiele. Statt der Utopie bleibt nur das kleinere Übel – ein trostloser Schluss. Damit aber bewegt sich die „Lohengrin“-Handlung in einem spannungsvollen Dreieck zwischen außerpolitischer Utopie (Lohengrin), politischer Legalität (König Heinrich) und gesetzloser Anarchie (Ortrud). In diesem Spannungsfeld wären durchaus aktuelle politische Fragen zu verhandeln. Eine Inszenierung, die Wagners „Lohengrin“ nicht als infantil denunziert, muss sich zu diesem Spannungsfeld in irgendeiner Weise verhalten.
Am Theater Freiburg hat Frank Hilbrich das mit zwei ganz starken Bildern getan. Zu Beginn schält sich vorm dunklen Vorhang ein Mann im Silberanzug aus einem Haufen von lauter Spiegelscherben hervor; bizarre Reflexe irrlichtern durchs Dunkel, einer davon hat offenbar Elsa erreicht. Denn wenn der Vorhang sich öffnet, sehen wir sie als Visionären mit Henna-rotem Haar und romantisch blauer Lotterkluft, bezaubert vom Blick in eine der Spiegelscherben. Das ist eine wirklich kluge Metapher. Denn natürlich spiegeln solche Märchenritter immer auch unsere eigenen Hoffnungen.
Das andere Bild verdankt Hilbrich seinem Bühnenbildner Stefan Heyne: Bevor man nämlich diese Elsa inmitten einer Gesellschaft aus müden Lungerern in Freizeitzivil (Kostüme: Nicole von Graevenitz) überhaupt entdeckt, wird er der Blick gefangen genommen durch eine gewaltige, vielstöckige Bibliothek mit rund sich wölbenden Regalen, hoch wie eine Kathedrale, düster wie ein Bunker: ein Schneckenhaus aus Büchern, in dessen Zentrum Funktionäre in grauer Politiker-Konfektion an einem Arbeitstisch die Staatsräson in Akten ablegen. Die Bibliothek als Staatsphilosophie: das ist Hilbrichs Bild für die legale Politik, in die Lohengrin einbricht wie ein halbseidner Rowdy in die Stadtbücherei. Er wirft den Staatsräson-Arbeitstisch über den Haufen, reißt die Bände aus den Regalen, und auch Telramund, ganz Politikerklischee mit Schniegelhaar und Hornbrille, fällt beim Gotteskampf einer Attacke Lohengrins mit einem Aktenordner zum Opfer. Und siehe da: plötzlich werden auch die Lungerer, die das Lesen offenbar lethargisch gemacht hat, munter und werfen mit Literatur, bis die Bücher den ganzen Boden bedecken und man nur noch darauf wartet, dass einer ein Streichholz in den Haufen wirft.
Das aber ist heikel: Ausgerechnet Lohengrin erscheint so nicht als Opernheld gewordene ästhetische Utopie, sondern als kulturloser Rabauke, dessen Abneigung gegen die Bücher ja weniger von den Revolutionären der Weltgeschichte geteilt wird als vielmehr von den Diktatoren und religiösen Fundamentalisten. Wenn Hilbrich das gemeint haben sollte, wäre seine Denunziation sogar krasser als die Konwitschnys. Ganz klar ist das aber nicht, wie seine Inszenierung überhaupt manches offen lässt. Zwar etablieren die Mannen unter Führung eines Quartetts aus weißen Adrettblondinen eine Art Lohengrin-Kult mit Schwanen-Eurythmie beim Brautzug und (Schwanen-?)Eiern als Devotionalien. Aber Lohengrin selbst macht kaum mit – damit will Hilbrich wohl zeigen, wie schnell aus Utopien Diktaturen werden können, wenn sie sie in eine gesellschaftlich Form gezwungen werden. Was die historische Erfahrung ja bestätigt.
Dass aber Lohengrins Schwanenritter-Fangemeinde sich nach Abzug ihres Führers eine wilde Prügelei um die nachgelassenen Devotionalien liefert, ist Unsinn. Denn Lohengrin – siehe oben – stellt mit Gottfried ja die alte Ordnung wieder her; und gerade in der Mangelhaftigkeit der konventionellen _Ordnung_, nicht im Chaos liegt im „Lohengrin“-Schluss das politisch Deprimierende. Und so ganz will auch nicht einleuchten, dass ausgerechnet Ortrud, als „wilde Seherin“ aus Radbods Schloss „im düsteren Wald“ Repräsentantin eines quasi vorkulturellen Heidentums, die „geheimsten Künste“, in denen sie „tief erfahren“ ist, ausgerechnet durch Lektüre in der Staatsbibliothek erwirbt. Hilbrichs Inszenierung ist szenisch spannend, sie entwirft in genauer Personenführung profilierte Charaktere und ordnet sie bildnerisch stark gesetzten Metaphern zu. Aber er geht nicht genau genug mit diesen Metaphern um.
Den Dirigenten bietet Wagners „Lohengrin“ einen weiten Spielraum, dessen eines Extrem durch die quasi-religiöse Aura von manchem Klangwunder markiert wird. Der Freiburger GMD Fabrice Bollon operiert auf dem anderen Ende der Skala – und das außerordentlich überzeugend. Er arbeitet schon beim Vorspiel die Klangkonturen in zartem, aber vollkommen klarem Lineament heraus und entwirft im Laufe der Aufführung im Widerspiel der musikdramatischen Facetten ein enorm spannungsvolles Gefüge, an dem der von Bernhard Moncado einstudierte Chor mit vorbildlicher Präsenz mitwirkt. Überhaupt bezieht Bollon die Sänger jederzeit in dieses Gefüge ein und motiviert sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu sehr differenzierten Leistungen. Und das ist selbst da sehr überzeugend, wo diese Möglichkeiten begrenzt sind. Nur Neal Schwantes’ holzig forcierender Telramund und der zwar markig-druchschlagskräftige, dabei aber ebenfalls sehr eindimensionale König Heinrich von Jin Seok Lee fügen sich nicht ins differenzierte Bild.
Dass Christian Voigt dies dagegen mit großer Seriosität tut, obwohl sein Piano in der Höhe dann manchmal gepresst klingt und er manchen Ton von unten anschleifen muss, statt ihn sauber zu attackieren, ehrt ihn. Insgesamt nehmen sein klares, rundes Timbre, das sich im Forte strahlend öffnet, und seine einfühlsame Phrasierungen für seine Interpretation ein. Die Elsa ist mit Christina Vasileva etwas problematisch besetzt, weil ihr hart timbrierter Sopran zu dramatischeren Partien vermutlich besser passt. Als Elsa fehlt ihr die weichströmende Lyrik, vor allem in der Höhe klingt ihre Stimme da spröde und angespannt. Aber auch sie interpretiert bemerkenswert facettenreich und damit letztlich überzeugend. Ebenso ungewöhnlich besetzt ist Sigrun Schell als Ortrud, der für diese Partie der Ton düsterer Tiefe fehlt, die der Figur dafür aber eine hellt timbrierte Überspanntheit gibt, die toll zu dem Charakter passt, den Hilbrich dieser Figur gibt: eine Hillary-Clinton-coole, Ursula-von-der-Leyen-blonde Politikerin, hinter deren gestylter Haltung jederzeit die Hysterie lauert. Das spielt Sigrun Schell wirklich stark!