Inszenierung oder Konzert?
Wenn es ein Konzert ist, dann eines auf höchstem Niveau. Zum einen, weil die Akustik der Elbphilharmonie, die nicht zusammenführt sondern trennt, keinen Klang schafft, sondern seine Architektur vorzeigt, ideal ist für Messiaens Oper. Und weil Kent Nagano sehr genau ist. Er riskiert es, dass der Klang rein bleibt, nicht verwaschen wird, dass man diese Musik in der Tiefe hört, mit allen Unterstimmen und Reibungen. In der berühmten Vogelpredigt beispielsweise hört man so viel mehr Vogelstimmen heraus als bei anderen Aufführungen und bekommt die Tempodramaturgie gratis dazu, die unterschiedlichen, gleichzeitig gespielten Tempi kann man hören!
Kent Nagano dirgiert nach vorne, bleibt immer schlank, vermeidet jenen Stillstand im Klang. Jedes Klangwunder, jedes Knurren oder Schnarren im Orchester, jedes schnelle Aufschnurren der Streicher, jede ungewöhnliche Klangfarbe der Bläser oder Perkussionisten, jedes Zusammenballen des Klanges wird zum Ereignis, wird zur Musik. François ist hier kein Wunder aus Kontemplation und Transzendenz, er ist ein Mensch.
Jacques Imbrailo singt bemerkenswert schlicht, mit einem nuancereich geführten, schlanken und hellen Bariton. Wenn er dem Engel begegnet, steht er nur da und wird spürbar kleiner. Als Engel ist Anna Prohaska überall im Raum, erfüllt ihn mit ihrer Präsenz, aber ihr Vibrato, besonders am Anfang, und ihre Intonationsproblemen passen nicht zu Messiaens Musik. Großartig dagegen sind die Mönche. Kartal Karagedik (Léon), Dovlet Nurgeldiev (Massèe), Andrew Dickinson (Èlie) und David Minseok Kang (Bernard) fesseln in jedem Moment. Anthony Gregory als Aussätziger leidet und feiert bemerkenswert still und berührt damit.
Einfache, heutige Bilder
Die Inszenierung von Georges Delnon, dem Intendanten der Staatsoper Hamburg, ist einfach gehalten. Die Spielfläche, kreisförmig, etwa drei Meter im Durchmesser, thront über dem Orchester in der Mitte des Raumes, zwei Stege führen hin (Szenografie: Thomas Jürgens). Nicht viel Platz für das Spiel. Dazu gibt es eine runde Projektionsfläche unter der Hallendecke mit vielen heutigen Bildern, die durchaus beliebig wirken, manchmal auch das Geschehen bildlich verdoppeln.
Zu ihnen bietet – vielleicht – die intensivste Spielszene des Abends den Schlüssel: In der siebten Szene „Die Stigmata“ tritt François abwehrend dem Chor gegenüber, der aus dem Vokalensemble LauschWerk und der Audi-Jugendchorakademie gebildet wird (und sehr überzeugend singt). Der Chor spricht hier als Gott und François wehrt hier nicht nur die göttliche Präsenz ab, sondern auch sich selbst, die Hybris in seinem Inneren, das Selbstbewusstsein, das aus dem eigenen Fortschritt erwächst und ihn eigentlich wieder zurücknimmt.
Das sagt zumindest das Spiel von Jacques Imbrailo. Vielleicht hat Delnon deshalb Kent Nagano selbst und Mojib Latif, einen Franziskanerpater und Repräsant:innen von Hinz & Kunzt, Sea Watch und dem Hamburger Hospiz im Helenenstift in den Film genommen und teilweise sogar den Operntext im Playback-Verfahren nachsprechen lassen. Vielleicht, zum dritten, geht es darum: Dass der Fortschritt des Individuums heute sozial geprägt ist und nicht mehr individuell, dass wir also in der Zeit von einem großen Paradigmenwechsel leben, in einer Zeit, wo das höchste Gut Zusammenarbeit ist.
Von gestern oder nicht?
Das heißt natürlich auch, dass François und seine Probleme der Selbstfindung, seine Suche nach der eigenen Größe, seine Auseinandersetzung mit Frömmigkeit, Transzendenz, Güte und Tod von gestern sind. Was aber definitiv nicht von gestern ist, das hört man an diesem Abend grandios, ist die Musik, die Olivier Messiaen für „Saint François d’Assise“ geschrieben hat. Und das Philharmonische Staatsorchester ist bei dieser Musik ein Vorbild als Musikerkollektiv, das wirklich zusammenarbeitet.
François (Jacques Imbrailo), der Aussätzige (Anthony Gregory) und der Chor © Bernd Uhlig