Foto: Valery Tscheplanova in "Die sieben Todsünden" © Monika Rittershaus
Text:Andreas Falentin, am 5. September 2020
Die unverkleidete Bühne der Staatsoper ist bis zur Brandmauer aufgerissen. Nur hinten in einer Ecke ist sie mit einem unordentlichen Wohnzimmer bestückt, das uns per Live-Kamera nahegebracht wird. Wenige Objekte – ein Auto , eine Fahne, ein paar Podeste auf Rollen – werden gelegentlich durch den Raum bewegt, Leinwände werden parallel zur Rampe herabgelassen. Sonst bleibt die Riesenbühne leer. Und die fünf Menschen, die sich auf ihr zu bewegen haben, wirken verloren. Allein.
Die Corona-Pandemie hat den ursprünglich zur Saisoneröffnung geplanten „Boris Godunow“ unmöglich gemacht, allein wegen der gerade für diese Oper zwingend notwendigen Chormassen. Als spielbaren Ersatz haben sich Frank Castorf und Kent Nagano „molto agitato“ einfallen lassen, ein scheinbar willkürlich zusammengestelltes Pasticcio, das aber schnell einen roten Faden bekommt. Neben der beschriebenen Verlorenheit scheint es um die Lust an der, den Zwang zur Selbstenfaltung und –verwirklichung zu gehen, ein in den letzten 30 Jahren viel erforschtes und diskutiertes Phänomen. Fast zwanghaft scheinen sich diese fünf Menschen auf der Bühne eitel zu spreizen, wild geschminkt, in den immer neuen, bizarren Kostümen von Adriana Braga Peretzki kombiniert mit abseitigen Accessoires.
Zunächst versammeln sie sich zu den Klängen von Händels „Einzug der Königin von Saba“ um Valery Tscheplanowa, die sich in eine USA-Flagge hüllt, eine erste drmaturgische Unschärfe. Denn das Bild kommt zwar mit den den Abend beschließenden „sieben Todsünden“ wieder zurück, bleibt aber unverbindliche Behauptung, sozusagen Kapitalismuskritik durch bloßes Flagge zeigen. Dann kommen die Sopranistin Katharina Konradi, die Mezzosopranistin Jana Kurucova und der Bariton Georg Nigl an die Rampe und ein Kammerorchester fährt herein. Mit den „Nouvelles Aventures“ von Györgi Ligeti kommt das sich-an-sich-selbst-Berauschen in Schwung, musikalisch meisterhaft koordiniert von Kent Nagano. Man versteht, worum es geht, aber mehr theatralische Aktion scheint hier wünschenswert, die flüchtigen, dadaistisch anmutenden Gesangszacken gäben es sicher her. Theatralische Energie projiziert der mit Narrenkappe auftretende Matthias Klink im Übermaß. Er scheint an seiner Eitelkeit sogar zu leiden und füllt Brahms‘ „Vier Gesänge“ op. 43 auch musikalisch mit fast zärtlicher, momentweise wütender Ironie, kongenial begleitet von Rupert Burleigh. Zu Ausschnitten aus Händels „Aci, Galatea e Polifemo“, klangschön und etwas sachlich musiziert, läuft dann ein russischer Animationsfilm aus den 60ern mit nackten mythologischen Figuren. Auch die sind eitel.
Zwischen Brahms und Händel etabliert Castorf unverhüllt, aber zu Beginn bemerkenswert organisch, eine neue Ebene. Es wird Text aus „Reservoir Dogs“ gesprochen, Quentin Tarantinos erstem Filmerfolg aus dem Jahr 1992, eine Gewaltorgie, die damals verstörte und heute kaum mehr etwas Spektakuläres hat. Der ohnehin mit eitler Selbstbespiegelung befasste Mensch als des Menschen Wolf, existenziell gierig und voller Zerstörungswut – ein wesentlich pessimistischeres Menschenbild lässt sich kaum denken. Georg Nigl und Valery Tscheplanowa versinnlichen dieses sozusagen absolut, indem sie eine zuvor wortlos projizierte Filmszene bravourös nachspielen. Wie überhaupt das sängerische und schauspielerische Niveau dieses Abends als exzeptionell bezeichnet werden dürfen.
Kulminations- und Endpunkt des Abends sind „Die sieben Todsünden“ von Brecht und Weill. Tscheplanowa singt und spielt sie prägnant im blutroten, hautengen Kostüm. Sozusagen von Tarantino gelenkt entsteht die Assoziation, man habe ihr die Haut abgezogen. Auch dieses Stück steht szenisch unaufwendig im Raum, reißt aber trotzdem mit, weil Tscheplanowa genau und doch gelassen spielt. Weil sie es schafft, ihren einzigartigen Umgang mit Sprache, diese schwebende, aber unerbittlich intensive Fokussierung, mit in die Musik zu nehmen. Weil Konradi, Kurucova, Klink und Nigl das bitterböse Vokalquartett mit großartigster Transparenz, Tiefenschärfe und Intensität ausstatten und weil Kent Nagano und die 17 Musiker des Philharmonischen Staatsorchesters im Graben zu ganz großer Form auflaufen.
Vom Ende her gesehen ist „molto agitato“ also ein spannender Abend mit strenger, starker Haltung. Die ja für Frank Castorf nicht eben ungewöhnlich oder gar neu ist. Da verzeiht man die nicht wirklich dramaturgisch beglaubigte Reihenschaltung der heterogenen Musikstücke.
Dennoch bleibt „molto agitato“ Corona-Theater: Achtsamkeit, Behutsamkeit, Budget-Disziplin, wo man hinsieht. Selbst bei Aleksandar Denic, dem Meister der spektakulären Drehbühnenbauten in Berlin, Bayreuth und anderswo, ist Schmalhans Bühnenmeister. Ob aus Sparzwängen oder weil in den Werkstätten auf Abstand gearbeitet werden muss oder warum auch immer: Theater in Pandemie-Zeiten scheint asketisches Theater mit eingeschränkten Mitteln zu bedeuten. Wann wären bei Castorf die Menschen jeweils so zahm über die Bühne gelaufen, so wenig laut, so wenig übers Ufer tretend, so sehr den Bereich des jeweils anderen wahrend? Sie ist Theater, ja, diese Hamburger Saisoneröffnung, kluges Theater sogar, aber eine angezogene Handbremse meint man in jedem Moment zu spüren, zumal im Hygienekonzept bedingt spärlich besetzten Zuschauerraum. Diese Handbremse kann zurzeit offenbar niemand lösen, nicht einmal der Bühnen-Berserker Castorf. Und das ist eine traurige Erkenntnis.