Foto: Stella An, Mikhail Biryukov, Ralf Rachbauer sowie Chor und Statisterie des Staatstheaters Wiesbaden © Karl und Monika Forster
Text:Bernd Zegowitz, am 1. Mai 2023
Bei den Internationalen Maifestspielen in Wiesbaden wurden zwei Janáček-Werke verbunden – eine Herausforderung für Zuschauer und Musiker, die exzellent besetzt war.
Emilia hat genug: 330 gelebte Jahre ohne die Aussicht auf ein Ende sind bares Unglück. Sie verlangt nach nichts, sie erwartet nichts, alles Gefühl ist in ihr erstorben. Die ewigen Wiederholungen, die elende Einsamkeit, die Ödnis des Bösen wie des Guten, der Erde und des Himmels, genau das hat den Komponisten Leoš Janáček an der Geschichte der Emilia Marty, frühere Elina Makropulos, interessiert. Und genau das verbindet dessen vorletzte Oper auch mit seiner letzten. Dort wurden die im Straflager gefangenen Häftlinge durch den Lageralltag abgestumpft, deren Mitleid getötet, den Zynismus gefördert. Allerdings haben diese noch einen Rest von Hoffnung, wollen ein wenig Würde bewahren und sei es im Erzählen von und im Erinnern an Liebesgeschichten.
Zur Eröffnung der Internationalen Maifestspiele am Staatstheater Wiesbaden hat der Regisseur Nicolas Brieger „Die Sache Makropulos“ und „Aus einem Totenhaus“ inszeniert und zeigt beide Opern an einem Abend. Dabei ist jedes Stück für sich eine Herausforderung – sowohl für die Zuschauer als auch die Musiker.
Das sonderbare Ding Zeit
Die realistisch gefasste, dabei extrem unwirkliche Tragödie der Elina Makropulos umgibt Brieger mit einem albtraumhaften Rahmen. In diesem zeigt er während des musikalischen Vorspiels, wie die Protagonistin von Vergangenheit und Gegenwart bestimmt wird. Verfolgt von jener, gefangen in dieser, wird ihr Wunsch, endlich sterben zu können, nachvollziehbar. Eine riesige, fortwährend sich drehende Turbine steht für das Rad der Zeit. Übergroße durchnummerierte Aktenschränke symbolisieren die verlorenen Identitäten und die Last der Geschichte (Bühne: Raimund Bauer).
Brieger erzählt dann, immer wieder durchsetzt mit kafkaesk anmutenden Szenen und Figuren, die Geschichte der Emilia nah an Text und Musik entlang. Das ist zum Teil reizvoll, weil er sich auf ein spielfreudiges Ensemble verlassen kann, zum Teil ermüdend, weil er zu sehr an den Buchstaben von Janáčeks Libretto klebt. Interessant sind besonders die Szenen, in denen er den Realismus unterläuft: Köpfe aus den Aktenschränken starren, maskenhafte Figuren sich einschalten, Requisiten doppelte Böden aufweisen, feste Räume sich auflösen. Eine riesige Eidechse ist allerdings mehr Behauptung als Gegenstand der Inszenierung.
Haus für lebende Tote
Besser gelingt Brieger die Mischung von Realistischem und Traumhaftem im „Totenhaus“. Ohne die Verbindung der beiden Opern zu strapazieren, stellt er Analogien her: Die einheitliche, nummerierte Häftlingskleidung erinnert an die Aktenschränke (Kostüme: Andrea Schmidt-Futterer). Uhren und die Turbine gemahnen an das Thema Zeit. Der Regisseur vergegenwärtig den eintönigen Lageralltag, unterbrochen nur durch die Lebensbeichten einiger Häftlinge. Diese Berichte stellen in ihrer Suggestivität, durch die Vergegenwärtigung von Vergangenheit einen Kontrast zum Leben im Lager dar. Und diese Erinnerungen scheinen auch das letzte bisschen Leben in den Gefangenen zu sein, ihr letzter Rest von Individualität.
Im Zentrum der Inszenierung steht die Theateraufführung im Lager, in der die Gefangenen im zweiten Akt der Oper den Don Juan-Stoff und die schöne Müllerin in kurzer Rohform präsentieren, die aber mehr Einblick in ihr Inneres, ihre Ängste und Sehnsüchte freigibt als alles andere. Männerchor und Solisten sind hier insgesamt grandios geführt, individuell ausgestaltet, gefangen in ihren körperlichen Ticks und psychischen Defekten. Durch die Dauerpräsenz der Gefangenen unterläuft Brieger die etwas starre Dramaturgie des Librettos, schafft eine Atmosphäre permanenter Bedrohung, in der die Selbstoffenbarungen vor den Augen und Ohren aller stattfinden und mitleidlos kommentiert werden.
Musikalische Grenzbereiche
Musikalisch dringt Janáček gerade auch in der Lebensbeichte des Gefangenen Schischkow in die Grenzbereiche des Ausdrucks vor. Ungewohnt kahl sind die Klangfarben im „Totenhaus“, die scharf-dissonanten Klänge aus Sekundreibung und Terz, auffällig ist die Instrumentierung, die keine Lyrismen oder Sentimentalitäten zulässt. Johannes Klumpp und das hessische Staatsorchester mögen die erbarmungslose Schärfe der Harmonik, arbeiten sich aber zuweilen etwas derb-rustikal durch die Partitur. Gerade in der „Sache Makropulos“ gibt es extrem kurze Momente des orchestralen Aufblühens, der Kantabilität – und gerade die gehen unter im etwas lärmigen Allerlei. Wie überhaupt die Abstimmung zwischen den Sängern auf der Bühne und dem Orchester im Graben nicht recht funktioniert, weil erstere öfter einfach untergehen.
Das gilt nicht für die Sängerin der Emilia Marty: Elissa Huber ist eine kraftstrotzende 330-Jährige, der ein wenig mehr Gebrochenheit gut gestanden hätte. Müd und matt ist sie nicht, eher beeindruckend kalt und eisern. Aber das ist halt nur die eine Seite. Der Albert Gregor von Aaron Cawley ist von des Gedankens Blässe ebenfalls nicht angekränkelt. Zurückhaltender, aber nicht weniger gefährlich und aufdringlich ist Jiří Sulženko als Jaroslav Prus. Die Männer im „Totenhaus“ sind bis in die kleinsten Rollen hinein exzellent besetzt, singen und spielen großartig, so etwa Claudio Otelli als Schischkow, Christopher Bolduc als Gorjantschikow oder Julian Habermann als Aljeja. Der von Albert Horne einstudierte Chor müsste nur deutlicher zu hören sein, aber das liegt in der Verantwortung des Dirigenten.
Als Doppel gibt es die beiden Janáček-Opern nur noch ein einziges Mal, dann werden die Inszenierungen an unterschiedlichen Abenden gezeigt. Der Intensität des Theatererlebnisses tut das keinen Abbruch. Warum also überhaupt ein Doppelabend?