Neue Form, klassisches Theater
Abgesehen von diesen Filmeinspielungen zwischen den „Szenen“ ähnelt das Konzept dem von „werther.live“: Wir befinden uns als Zuschauer gleichsam auf dem Bildschirm von Kostja (Nils Hohenhövel), dem jungen Theaterautor, der im Dauerkonflikt mit seiner Mutter, einer etablierten Schauspielerin, steht, wir blicken auf die Computeroberfläche von Nina (Klara Wördemann), seiner Freundin, die sich bald in Boris verliebt und mäßig erfolgreich Schauspielerin werden will, und schließlich sind wir Zeuge der Aktionen auf dem Bildschirm von Mascha (Jonny Hof). Mascha ist in der Stückvorlage ein in Konstantin verliebtes Mädchen, das aus Pragmatismus dann eben einen langweiligen Lehrer heiratet. Hier ist Mascha der Kumpel von Konstantin, im Grunde seines Herzens liebt er seinen Freund – und ist nun als junger Vater (beim Wäsche Zusammenlegen) zutiefst unglücklich.
Die Inszenierung von Cosmea Spelleken konzentriert sich also auf drei junge Hauptakteure. In Textentwürfen auf dem Bildschirm, in Sprachnachrichten, beim Durchstöbern des Fotoarchivs oder Videotelefonaten wird die Geschichte der Drei plus dem Filmemacher Boris, der zwischenzeitlich mit der schwärmerischen Nina zusammen ist, und dann wieder zu Kostjas Mutter „zurückkehrt“, erzählt oder vielmehr zusammengesetzt. Es geht – in gewisser Weise sehr altmodisch – um ganz große Gefühle. Wir sind quasi dabei, wie Nina sich Illusionen über die Beziehung zu Boris und ihr anstehendes Vorsprechen an der Schauspielschule macht, wie er sie auffordert, das Liebesfilmchen von ihrer Instagram-Seite zu nehmen; wir verfolgen Kostja beim frustrierenden Schreiben eines großen Dramas, und sehen Mascha zwischen alter Freiheit und frischen Zwängen und wie er sich in den Alkohol flüchtet. Wir verfolgen – besonders eindrücklich bei Klara Wördemanns Nina –, wie junge Menschen einsam in ihrer Wohnung am Bildschirm agieren, wie sie in den sozialen Medien sich und anderen etwas vormachen. Nicht ausdrücklich, aber atmosphärisch prägen Kontaktsperren und Lockdowns die sozialen Verbindungen; der nicht lange vergangene Sommer der Liebe, wie er in den Filmen immer wieder auftaucht, ist in weite Ferne gerückt.
Melancholie am Rechner
Der Höhepunkt dieser berührenden Szenen ist das Zoom-Gespräch am Ende zwischen Kostja und Nina, wenn sie ihren Ex-Freund bittet eine Casting-Übung mit dem Text aus „einem älteren russischen Stück“ kritisch zu verfolgen. Spätestens hier verschmilzt die Nina aus „möwe.live“ mit der Nina aus der „Möwe“ – wobei offen bleibt, ob sie Kostja eigentlich eine Rolle vorspricht oder sich direkt an ihn wendet. Auch was aus Kostja wird, der zuvor Abschiedstexte an Mutter und Nina vorbereitet hatte, bleibt offen. Wenn er am Ende seinen Computer ausschaltet, wirkt das beinah ergreifend.
Paradoxerweise gelingt es der Inszenierung also, mit neuen Medien ein Theater zu zeigen, wie es momentan eigentlich gar nicht mehr en vogue ist. Hier werden Geschichten und Figuren plastisch entwickelt. Diese Menschen sind von großer Isolation umgeben, und möchten eigentlich um so mehr aufeinander zugehen. Sie sind dazu gezwungen, sich isoliert voneinander, gleichsam monologisch zu artikulieren; ihre Situation wird durch Icons illustriert, ihre Verwirrung durch Multitasking am Rechner verdeutlicht; und durch die Filmrückblenden (von Boris) in pittoreskem Ambiente erscheint sie um so bitterer. Eher am Rande verhandeln Boris und Arkadina auf der einen und Kostja auf der anderen neue Kunstformen. Kostja propagiert ein neues digitales Theater, Boris scheint eher ein klassischer Dokumentar-Filmmacher zu sein. Im Kern geht es im Medienmix von „möwe.live“ aber um Menschen, ganz im Sinne Tschechows und seines scheiternden Helden Kostja: jenseits aller formalen Fragen.