Foto: Felix Mühlen als erster Moritz Krehmer und Prinz als Hund in "Nullen und Einsen" am Staatstheater Mainz. © Bettina Müller
Text:Detlev Baur, am 18. Januar 2013
Moritz Krehmer ist ein unscheinbarer Zeitgenosse. Er arbeitet in einer verwechselbaren Firma mit Zahlen und Daten. Auch Kollegin Kristina erklärt ihm beim Versuch eines Dates, dass sie ihn für extrem langweilig hält. Wenig später lernt er einen Penner kennen, welcher ihm einen Logarithmus erklärt, mit dessen Hilfe Moritz seine Arbeit, mehr oder weniger genau, in einem Bruchteil der bisherigen Zeit erledigen kann. Daraufhin befördert der nur bedingt erfolgreiche Auftragsmörder Bär (im Dienste des Chefs, dessen Hauptproblem wiederum das Hündchen seiner Gattin ist) Moritz ins Krankenhaus. Bei dem Transport klaut der aussteigewillige Rettungsfahrer Jonas nicht nur Ausweis und Kreditkarte, sondern auch die Identität von Moritz – was dank seiner bisherigen Unscheinbarkeit auch nicht weiter auffällt. Auch dem mit Gedächtnisverlust geschlagenen Penner (im Personenverzeichnis „Der Professor“ genannt), der noch immer in der Wohnung des Verletzten lebt, wird als Identität Moritz Krehmer aufgedrängt. Dieser Moritz lebt mit einer Frau zusammen, die nach dem Verkehrsunfall ihres Rettungswagen querschnittsgelähmt wurde und deren liebevoll pflegender Freund (ein Nachbar von Moritz) jüngst schlaganfallartig starb. Dies sind noch nicht einmal alle Motivketten in Philipp Löhles neuem Stück „Nullen und Einsen“, das von Jan Philipp Gloger im Kleinen Haus des Staatstheaters Mainz uraufgeführt wurde.
Die digitale Welt im Zusammenleben der Menschen ist der Ansatz dieser „Eine Tragödie“ genannten Komödie. Ob das Stück diese – durch wissenschaftstheoretischen Vorspann und Zwischentexte noch betonte – hoch gelegte Latte erreichen kann (und überhaupt will) ist fraglich. Die Figuren sind ziemlich eindimensional gestaltet, der absurde Büroalltag der Hauptfigur hat (gehobenes) TV-Comedy-Format, sprachlich ist Löhle kein Theatererneuerer. Die immer wildere und dabei sehr stilsichere Verwirrung zeugt jedoch von hohem komischen Talent und handwerklich großem Geschick. Letztlich ist das Stück eine theatrale Abhandlung der Relativität von Liebesgeschichten und zeigt sehr gegenwärtige Menschen ohne Eigenschaften mit vielen rollenspielerischen Lebensmöglichkeiten. Am Schluss wird der Killer zum Penner, der Aussteiger zum toten Versager, auch ein toter Ex-Geliebter ist nicht ganz aus der Welt dieser fröhlichen Verwirrungen.
Die Mainzer Uraufführung geht adäquat mit dem Text um. Ein graues Großraumbüro (Bühne: Franziska Bornkamm) ist durchgehend der Spielraum, auch für die Wohnung oder das Krankenhaus. Der Kunststoffboden verwandelt sich an der Rückseite der Bühne zur Rückwand, auf die später auch Zahlenketten von Einsen und Nullen projiziert werden; im kurzen dritten Teil hängen die Stühle und Tische nur noch surreal an der Decke. Spätestens da wird Felix Mühlen als (ursprünglicher und erster) Moritz Krehmer zum zweifelnden und lernenden Parzifal unserer Tage. Auch die anderen Darsteller überzeugen in dieser homogenen Inszenierung. Die schöne Identitätsspielerei bleibt manchmal übermäßig entspannt (auch Dank Kostia Rapoports loungiger Musik), entwickelt aber zum Ende hin wunderbare menschliche Miniaturen. Ob alles vielleicht nur ein Fiebertraum oder das Ergebnis eines Datenunfalls war, ist dabei zweitrangig. Auch wenn die mit Fotos illustrierten schlauen Texte kurzzeitig an VHS-Vorträge erinnern: Auf jeden Fall war es lebendiges Theater.