Die angekündigte Reflexion über den ideologischen Hexenkessel in der Weimarer Republik und dessen Niederschlag in kulturellen Manifestationen erweist sich zahmer als erwartet. Die inhaltliche Fülle ist bestechend, doch eher geht es um Dekonstruktion von Sujets, Atmosphäre, historischem Filmmaterial und Raum. Die Macher zeigen, was sich für ein kreatives Kapital aus der Digitalisierung schlagen lässt. Eine fast schizophrene Aufladung visueller Zeichenhaftigkeit: Die Kamera richtet sich nicht nur auf das Sichtbare, sondern auch auf das Vergangene und Symbolische. Versinnbildlichung mit Zukunftspotenzial: Dieser Film propagiert möglicherweise Strukturverfahren des Theaters der zweiten Digitalisierungsgeneration. Das Spiel mit einem Foto vor einem anderen Bild gibt es schon einmal zu Beginn. Da legte eine Hand verschiedene Plakatentwürfe auf das Standfoto der „Herrin der Welt“ auf dem Thron. Diese implantieren Zielgruppen-Wirkungen: Femme fatale – mystisch, das Bummelchen – hausbacken, die Soubrette – ironisch, die Hingebende – pathetisch, mysteriös, maliziös.
Das sächsische Jahr der Industriekultur 2020 führte zu Relikten und „Nothing Will Be Archived“ ergänzt mit Assoziationen an unkenntliche Produktionsorte der Traumfabrik und ihre Materialien aus Pressspan. Der Baustoff für die filmischen Träume war also kein anderer als der für die Möbelkonfektionen im trauten Heim des Publikums.
Rinnert und Müller legen ein Koordinatensystem von symbolischen, choreographischen, und topographischen Bezügen über ihre einstündigen Film, der mit einer Totale über begrünten Laubwald bis zu Windrädern am fernen Horizont beginnt. Das assoziative Spektralnetz dehnt sich aus, streckt sich in der Zeit zurück und tritt auf der gegenwärtigen Stelle. Jedes Blatt und jeder Erdklumpen kann blosses Ambiente sein – oder sinnhaftes Zeichen. Die aberwitzige Handlung von „Die Herrin der Welt“ mit ihren Sprüngen von einem aus deutscher Perspektive beängstigendem China in das mit Opernkostümen aufgemotzte Retro-Babylon nimmt sich dagegen schlicht aus, trotz Spiegelung der entstehungszeitlichen Orientierungs- und Rastlosigkeit.
Diese poetische Dokumentation ist Mittler zwischen dem Kunstwerk, dessen Making of, Analyse und eine performative Spiegelung, die das verschwundene Unwiederbringliche als geistiges und virtuelles Artefakt beschwört, verherrlicht und kritisiert. Für sie braucht man die Bereitschaft zu entspannter, nicht verspannter Konzentration und gelassener Betrachterlaune. Wer sich auf die Einladung zum vierdimensionalen Blick auf das Dokumentarische einlässt, entdeckt Poesie. Nur dass man nicht in ein Buch fällt und von diesem aufgesogen wird, sondern von einem Mehr-als-Film, der das von ihm gespiegelte Inhalts- und Ortsmaterial seziert. Das Werk widerspricht seinem Titel. Einiges bleibt doch in Erinnerung.
Der Film ist bis einschließlich 6. Dezember auf der Homepage der Sophiensaele zu sehen.