Foto: Hannah von Peinen und Isa Weiss in "Der Vorfall" am Staatstheater Mainz © Andreas Etter
Text:Björn Hayer, am 15. Mai 2022
Die „Paar trifft auf Paar“-Konstellationen wirken in der Regel explosiv. Man denke nur an Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ oder Yasmina Rezas „Der Gott des Gemetzels“, deren Figuren allesamt der höheren Mittelschicht entstammen und binnen weniger Stunden das Fundament der westlichen Zivilisation sprengen. Ähnliches geschieht in Deirdre Kinahans „Der Vorfall“: Nachdem sich Ray (Klaus Köhler) und Sandra (Hannah von Peinen) ein gutes Leben aufgebaut haben, überschattet unversehens ein Trauma aus der Vergangenheit die vermeintlich idyllische Gegenwart.
Handlungsort stellt das nun zum Verkauf stehende Geburtshaus der Protagonistin dar, wozu sie Linda (Katharina Hackhausen), eine frühere Schulfreundin, als Maklerin einlädt. Nur wusste Sandra nicht, dass diese zur Besichtigung wiederum ihren Ehemann Eddie (Vincent Doddema) mitbringt – nämlich jenen Mann, der sie in einer Nacht während der College-Zeit vergewaltigte. Zwar setzt Sandra anfangs noch ein vereistes Lächeln auf, allerdings brechen die nie verheilten Wunden rasch auf. Dabei ist es mit dem späten Geständnis des Täters nicht getan. Unlängst fürchtet Linda um das Fortbestehen ihrer Familie und auch der bislang uninformierte Ehemann Ray scheint sich von seiner Frau zu entfremden. Zudem erinnern sich auch die anderen Figuren an nie verarbeitete Missbrauchsmomente. Gerade in der ebenso anwesenden Dairne (Isa Weiß), die beste Jugendfreundin der Protagonistin, kommen Gedanken an Pöbeleien in ihrer Zeit vor der Geschlechtsumwandlung hoch. Und selbst die Karrierefrau Linda weiß mit einem Mal von Grapschereien und Herabsetzungen zu berichten.
Während der pointierte Text die aufwühlende Lage immer weiter zuspitzt, nähert sich Regisseurin Kathrin Mädler in ihrer deutschsprachigen Erstaufführung am Staatstheater Mainz dem Stoff mit ruhiger und konzentrierter Haltung an. Sie lässt den Dialogen und allen voran der inneren Krise Sandras Raum, ohne auf wenige, dafür jedoch perfekt gesetzte Bilder zu verzichten. So friert sie etwa mehrfach das Spiel ein. Nur ihre von Panikattacken heimgesuchte Heldin ringt dann noch im einsamen Lichtkegel um Fassung. Besonders beeindruckend mutet darüber hinaus der Einsatz von Statistinnen an: Mehrfach tauchen sie in Tüllkleidern als Spiegel für die Sandra aus jener schicksalshaften Partynacht auf. Sie stützen ihren Kopf gegen ein Waschbecken oder liegen erschöpft mit dem Oberkörper auf dem Küchentisch. Sie sind Geister, Wiedergänger, menschliche Mahnmale mit stets erneut aufklaffenden Narben.
Verleugnete Vergangenheit
Durch ihre Gegenwart verwandelt sich auch die Bühne in Teilen zum Ort der Gewalterfahrung. Die Wände in Rosé-Tönen gehalten, erweist sich das Interieur mit einem Bett, einem mit Bildern und Kram angereicherten Regal und einem Neo-Siebziger-Vintage-Sessel zunächst als eine wohlige Heimstätte. Rechts im Hintergrund befindet sich das Bad, links hinten die Küche. Dass diese durch eine Holzschiebetür abgeschlossen werden kann, hat ihren Grund. Nachdem die Begegnung mehr und mehr eskaliert, ist mit einem Mal aus dem Speisebereich die alte Szenerie von damals geworden. Nun starrt eines der Mädchen, das von umgefallenen Trinkbechern und Popcorneimern umgeben ist, aus einer Ecke ins Leere.
Das Publikum glaubt spätestens zu diesem Zeitpunkt, einem reinigenden Gewitter beigewohnt zu haben. Denn Sandra hat alles ausgesprochen und der Vergewaltiger hat nach langem Zögern und Relativieren gestanden. Doch dann überrascht uns der Abend. Um nicht zu spoilern, sei nur gesagt: Erneut bestimmt Verdrängung den Umgang mit dem Schmerz. Das Opfer bleibt ein Opfer. Nur auf Kosten der Lüge scheinen sich Wohlstand und privates Glück bewahren zu lassen. Passend dazu fallen gegen Ende auch einzelne Schneeflocken in der Küche. Sie decken zu, was war und werden zu Eis, das alles einfriert. Aber wo Glut ist, wird jedes Eis schmelzen.
Gewiss findet man diese Tage unzählige Dramen, die toxische Männlichkeit anklagen und die die Brutalität einer chauvinistischen Machtordnung verdeutlichen. Kein akademischer Diskurs wird gescheut, um die patriarchale Logik der Zerstörung zu entlarven. Dass Theater allerdings auch anders kann, dass es uns, ohne belehrsam sein zu wollen, mit jenem Problemfeld emotional zu überwältigen imstande ist, zeigt Kathrin Mädler auf erschütternde Weise. Ihre Inszenierung erfasst uns wie ein eisiger Wind. Kühl fühlt sich die Haut an, in der wir uns nicht mehr wohlfühlen. Hier offenbart sich keine Bühnenillusion. Vielmehr wirkt bestechend klar der Schock des Realen.