Foto: Dum prüfe, wer sich ewig bindet: Jessica Muihead verkaufte Marie und Richard Samek als Hans. © Matthias Jung
Text:Ulrike Gondorf, am 15. Oktober 2017
Dem tschechischen Regieduo SKUTR gelingt an der Aalto Oper in Essen eine ausgesprochen originelle Interpretation von Smetanas „Verkaufter Braut“.
Klar, sie liebt ihn. Aber kann sie dem Mann, den sie da heiraten will, wirklich vertrauen? Keiner kennt ihn, das ganze Dorf ist sowieso dagegen, er redet nicht von früher. Wer sagt ihr, dass er nicht ebenso plötzlich aus ihrem Leben verschwinden wird, wie er darin aufgetaucht ist. Marie braucht Bedenkzeit. In der Neuinszenierung der „Verkauften Braut“ in Essen wird das Publikum zum Zeugen einer Selbstbefragung.
Das Prager Regieduo SCUTR hat die tschechische Nationaloper auf die Bühne des Aalto-Theaters gebracht. Die beiden Regisseure Martin Kukucka und Lukáš Trpišovský arbeiten schon seit ihrer Studienzeit zusammen. Bekannt geworden sind sie vor allem in der freien Festivalszene, mit Tanz- und Crossover-Projekten. Inzwischen haben sie auch einige Opern inszeniert. Ihre Essener Arbeit überzeugt mit fein ausgeloteter Psychologie, komödiantischer Spielfreude – und einem Zugang, der sehr überraschend ist. Der folkloristische Mief, in dem dieses oft unterschätzte Stück leicht steckenbleibt, hat an diesem Abend keine Chance.
Wenn der Vorhang aufgeht, schaut man in eine Turnhalle (Bühne: Martin Chocholoušek). Dort wird wohl später gefeiert werden. Marie stürmt herein, in der Hand ein Bild ihres Liebsten. Mal küsst sie es, im nächsten Moment pinnt sie es an den Boxsack und trommelt mit den Fäusten darauf herum. Da ist Klärungsbedarf. Irgendwann liegt sie erschöpft am Boden. Einer der Zirkusartisten, die hier den ganzen Abend mitspielen und nicht bloß im dritten Akt, streut Konfetti – als Hochzeitsgast oder als Sandmännchen? Marie scheint wegzudriften. Dass Hans sie (wenn auch nur zum Schein) verkaufen wird, dass sich ein tiefer Graben voller Angst, Misstrauen und Enttäuschung zwischen ihnen auftun wird – vielleicht träumt oder tagträumt sie das alles? Jedenfalls erzählen die Regisseure die Geschichte als surreale Reise durch Maries Kopf in der „Nacht vor der Hochzeit“. Ende offen übrigens: Am Schluss sitzt die Braut allein auf einem riesigen Bett.
Aus diesem Konzept gewinnt die Inszenierung große Freiheit. Wie ein Zukunftsversprechen oder ein drohendes Menetekel hängt das Hochzeitskleid samt goldener Brautkrone die ganze Zeit unter der Decke, trotzdem wird in der Turnhalle durchaus konkret und deftig agiert. Die Dorfgesellschaft sieht so grotesk spießig aus, wie sie Marie vielleicht vorkommen mag: die Herren im Schützenlook, die Damen haben sich fein gemacht mit Petticoat und turmhoch toupierten Frisuren (Kostüme: Simona Rybáková). In der Turnhalle kann man allerlei aus den Wänden herausklappen und aus den Ecken ziehen, womit sich spielen lässt. Das Pferd wächst im Laufe des Abends zu fast bühnenfüllender Größe. Mit Ticks und abgezirkelten Gesten spielt sich das Ensemble durch die Chor- und Tanzszenen, als wäre es ein Rossini-Finale, in dem die Automaten tanzen. Die Zirkustruppe zieht die Fäden des Geschehens.
Das ist alles leichthändig und gekonnt gemacht, aber nur das Beiwerk zu einer Geschichte, die bei SKUTR so ernst und herzzerreißend herauskommt, wie man das selten sieht in der „Verkauften Braut“. Wie es aber der Größe der Musik von Bedrich Smetana einzig angemessen ist. Die Geschichte von Marie ist – jedenfalls während sie durchlebt werden muss – eine Liebestragödie. Und dieser Abend verrät seine Heldin keine Sekunde an eine billige Spieloperngemütlichkeit.
Damit liegt das szenische Geschehen ganz auf einer Linie mit der musikalischen Interpretation von GMD Tomáš Netopil, der nach Martinus „Griechischer Passion“, Janáceks „Jenufa“ und Dvoraks „Rusalka“ seine Essener Reihe mit überragenden tschechischen Opern fortsetzte. Auch in seiner musikalischen Sicht dominiert die Ambivalenz. Netopil nimmt sich viel Zeit, der indirekten Perspektive der Inszenierung entspricht eine ausgeklügelte und vom Orchester perfekt umgesetzte Schattierung der Dynamik. Die Tänze bleiben immer gebändigt, ein Hauch von „Als-ob“ scheint die folkloristische Vitalität ein wenig zu distanzieren. In „Böhmens Hain und Flur“ lassen Netopil und die Essener Philharmoniker immer wieder melancholische Nebelschleier aufziehen. Die Klangfarben leuchten mit gedämpftem Glanz, und die unerhörten „schönen Stellen“ dieser Partitur, die bei Smetana vor allem die Bläsersolisten zu verschenken haben, sind von fragiler Kostbarkeit. Im Gesamteindruck dominieren die verinnerlichten Momente wie das ganz außerordentlich verdichtete Sextett im dritten Akt.
Höhepunkt des Abends ist Maries große Arie, in der sie sich von ihrem schwindenden Liebestraum verabschiedet. Jessica Muirhead, Essener Ensemblemitglied und schon in der vergangenen Spielzeit eine perfekte Elsa im „Lohengrin“, ist eine Idealbesetzung für die Titelrolle. Ein großer lyrischer Sopran, der alle dramatischen Aufschwünge mühelos meistert und mit seinen warmen Klangfarben den Charakter der unglücklichen Heldin berührend nachzeichnet. Richard Samek als Gast vom Nationaltheater Prag singt den Hans differenziert und höhensicher und kann auch als Darsteller punkten. Tijl Faveyts als Heiratsvermittler Kezal führt spielstark die komische Fraktion, und sein Bass lässt durchaus ahnen, dass etwas Gefährliches lauert in diesem jovialen Typen.
Dass eine Produktion, an der so viele tschechische Künstler mitwirken, auf deutsch gesungen wird, mag überraschen. Übertitelt wird sowieso. Vielleicht hat das Aalto-Theater an junge Besucher gedacht dabei. Und da man Kezals Arie im Original hört, kann sich dann jeder selbst fragen, was schöner ist.