Text:Wilhelm Roth, am 6. Juni 2011
Die Oper „Der Besuch der alten Dame“ von Gottfried von Einem – vor 40 Jahren uraufgeführt und inzwischen fast vergessen – wurde am Stadttheater Gießen zu einem packenden Theaterabend. Das ist dem Werk, aber auch der Gießener Produktion zu verdanken. Dürrenmatt selbst hatte seinerzeit das Libretto verfasst, der Komponist schrieb dazu, wie er selbst äußerte, „die reinste Theatermusik“. Sie ist tonal, arbeitet aber mit vertrackten Rhythmen und harmonischen Reibungen. Der Sprechgesang könnte auf die Dauer monoton wirken, gäbe es da nicht die vielen Ausdrucksnuancen.
Claire Zachanassian, in ihr Heimatstädtchen Güllen zurückkehrt, um sich für ein Unrecht zu rächen, das ihr vor 45 Jahren zugefügt wurde, kann heiter über ihr erfolgreiches späteres Leben plaudern. Bis ihre Stimme schließlich eisig wird, wenn sie den Tod von Alfred Ill fordert, der sie damals mit ihrem Kind sitzen ließ, so dass sie zur Hure wurde. Für den Mord bietet sie eine Milliarde. Caroline Whisnant als Gast ist sängerisch und schauspielerisch das Zentrum der Aufführung. Die anderen Protagonisten stehen ihr kaum nach. Edwart Gauntt als Alfred Ill, hin und hergerissen zwischen der Hoffnung, dass seine Mitbürger das „Angebot“ nicht annehmen, und Verzweiflung. Oder der Bürgermeister (Dan Chamandy), der sich an Claire heranschmeichelt.
In einem Punkt unterscheiden sich Schauspiel und Oper sehr deutlich. Das Stück wird oft als „schwarze Komödie“ gespielt, die Musik aber treibt die Oper zur Tragödie hin. Zwar gibt es den skurrilen Zachanassian-Hofstaat mit inzwischen Gatten Nr. 7, aber die Handlung führt in den moralischen Abgrund. Alle sind schuldig geworden, Alfred Ill, die alte Dame, die Rache will und von Gerechtigkeit spricht, die Bewohner von Güllen, die aus Geldgier und Armut Ill zum Tode verurteilen. Die musikalische Leitung von Herbert Gietzen, die sorgfältige Regie der Intendantin Cathérine Miville und die dunkel phantastische Bühne von Lukas Noll runden den Erfolg ab.