Foto: Eva Lucia Grieser, Lauretta van de Merwe, Roman Pertl in "Die Kinder der Zeit" am Zimmertheater Tübingen © ITZ Tübingen
Text:Thomas Morawitzky, am 7. Januar 2023
Ein Elternteil verstarb, die Kinder kehren heim ins Haus, alte Konflikte flammen auf – ein Familiendrama, so mag es scheinen. Doch der Vater, der da erst noch unter Tüchern auf dem Boden liegt – das ist die personifizierte Zeit. Das Haus, in dem er wohnte, ist gefüllt mit Sand. Der Regen, der unablässig auf das defekte Dach prasselt, rieselt herab als Sand einer anderen Farbe. An den Wänden hängen schwarze Tiermasken. Und die Kinder, die sich anlässlich des traurigen Ereignisses wieder treffen – das sind Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit.
Ein gedankenschwer symbolisches Thema also ist es, an das das Tübinger Zimmertheater sich mit seinem neuen Stück heranwagt, arg philosophisch, beladen mit Abstraktionen, die es ohne Weiteres in die Tiefe sacken lassen könnten – an anderem Ort, nicht jedoch hier. Denn im Zimmertheater schwebt es, wird getragen von feiner Ironie und drei hervorragenden Schauspielern.
Alltäglichkeit und überzeitliche Ideen
Peer Mia Ripberger, gemeinsam mit Dieter Ripberger seit 2018 Intendant des Zimmertheaters, hat „Die Kinder der Zeit“ eigens für sein Theater geschrieben – ein Text, der (anders als die Texte früherer Inszenierungen am Zimmertheater) darauf verzichtet, sein Thema mit Zitaten oder Querverweisen auszuleuchten. Drei treffen sich wieder, trauern, machen sich Vorwürfe, verzweifeln, grübeln, trennen sich. Dass das Spiel auf eine andere Ebene zielt, erschließt sich dem Zuschauer zunächst lediglich durch den Blick ins Programmheft. Peer Mia Ripberger konterkariert die metaphysische Schwere mit der schlichten Diesseitigkeit des Geschehens. Nur allmählich, so wie der Sand und das Wasser durchs defekte Dach rieseln, dringen andere Bilder ein und geben den Szenen symbolische Bedeutung.
Dann gibt es noch das Paradoxon, „eine mehr oder weniger vertrauenswürdige Erzählinstanz“, die zu Beginn und am Ende des Stückes auftritt: Eva Lucia Grieser, Lauretta van de Merwe und Roman Pertl sitzen in einer Ecke ihres alten Hauses auf Steinen und sprechen im Chor: „Hin und wieder / gar nicht mal so / selten / da verlieren / für einen kurzen / Augenblick / ganz plötzlich / alle Wasser der Welt / ihre Fähigkeit zu / fließen / der Tropfen hängt / bewegungslos in der Luft“. Die Zeit ist also tot, oder: Die Zeit steht still, das große Kontinuum. Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit müssen zuschauen, wie sie miteinander klarkommen, gewissermaßen in der Zwischenzeit. Sonst begegnen sie sich ja nie – da ist das eine Kind immer gerade aus dem Haus, wenn das andere hereinkommt.
Roman Pertl ist die Vergangenheit und meldet sich als Erster zu Wort, beklagt den Tod des Vaters. „Ein trauriger Tag“, sagt Lauretta van de Merwe, die Zukunft. „Tot traurig“, sagt Eva Lucia Grieser, die Gegenwart. Doch halt: Was will sie hier, die sich sonst immer gerne entzog? Die Zukunft möchte den toten Vater waschen, die Gegenwart will helfen – von den Geschwistern kommt weder Zustimmung, noch Liebe, gilt die Gegenwart doch als unzuverlässig: „Zack biste hier, zack wirst du wieder weg sein“ – „Gleich hastes wieder vergessen.“
Das menschliche Gesicht der Zeiten
Nicola Gördes hat die Kinder der Zeit in dezenten Tönen gekleidet. Eva Lucia Grieser spielt die Gegenwart mit trotzigem Blick, schmollend, hartnäckig um Geltung ringend, mit starkem Ausdruck, dabei immer wieder auch sinnierend, nachdenklich versunken in die Betrachtung eines vorgestellten Flusses. Sie trägt ein graues Kostüm mit weißem Kragen, die Haare streng zurückgebunden, wird ihre schwarzen Schuhe später abstreifen. Lauretta van de Merwe trägt ebensolche Schuhe, behält sie aber an, erscheint in einem schwarzweiß karierten Mantel, ist nichts als Besorgnis. Kommt die Rede auf den Fluss, das Wasser, die Vergänglichkeit, schlägt sie die Hände zusammen, schluchzt und denkt an ihr eigenes, ertrunkenes Kind.
Roman Pertl, die Vergangenheit, in dunklem Anzug mit Rastermuster samt Weste, sehr vornehm, geht mit Filzpantoffeln hin und her auf dem Sand, der dick den Boden des Theaters bedeckt, in den jeder Schritt eine Spur hinterlässt: Die Vergangenheit kann es sich wohl leisten, lässig räsonierend umherzuschlendern. Sie ist ja schon vorbei, was soll ihr geschehen? Aber noch stehen zwei Fragen im Raum: Welches der Kinder hat Vater Zeit auf dem Gewissen? Und: Wie soll es weitergehen?
Da könnte ein Bezug zur tatsächlichen Gegenwart durchscheinen, denn schließlich: 2022, 2023 („Die Kinder der Zeit“ sollte seine Premiere bereits im Dezember feiern, Krankheitsfälle verhinderten dies) steckt die Welt in der Krise, die Zukunft scheint ungewiss. Auf solche Festlegungen will das Stück sich jedoch nicht einlassen – es bleibt in einem surreal entrückten Raum. Konstantin Dupelius hat für die Inszenierung ein mitunter geräuschhafte Ambient-Musik geschaffen, die das Geschehen weiterhin entschleunigt. Die Schauspieler nehmen die dunklen, großen Tiermasken von den Wänden, sprechen zueinander als Karpfen oder Schildkröte . Sie werden zum Angler, der im Fluss fischt, ziehen sich zurück in die Nischen des alten Kellergewölbes, in dem gespielt wird, singen sehr schön ein „Lied von Tag und Nacht“.
Sie treffen sich nach einer Pause wieder. Der Vater ist dann begraben; die Zukunft lassen sie zuletzt allein. Da sitzt sie, nicht wirklich glücklich, auf dem Grabstein von Vater Zeit, raucht eine Zigarette. „Die Kinder der Zeit“ ist ein Gleichnis, das zum Leben erwacht, heiter und berührend, dank eines Ensembles, das es versteht, den Zeiten ein jeweils sehr menschliches Gesicht zu geben.