Foto: Laurène Levy, Dorothée Gilbert, Mathias Heymann und Jérémie Bélingard im neuen Stück "L'Anatomie de la sensation" von Wayne McGregor. © Anne Deniau/Opéra national de Paris
Text:Andreas Berger, am 5. Juli 2011
Die Gesichter sind zerlaufen, wie ausgelöscht, die Münder oft weit geöffnet zum Schrei, die Leiber zuweilen aufgerissen bis aufs Fleisch: Die Bilder des irischen Malers Francis Bacon sind von verstörender Gegenständlichkeit, stülpen dabei die innere Gefühls- und Seelenlage des modernen Menschen gewissermaßen nach außen und setzen ihn noch dazu in diffuse Räume, oft rechteckig gerahmt, als würden diese Zustände regelrecht ausgestellt. Bilder aus der Anatomie des Gefühlslebens.
„L’Anatomie de la sensation“ überschreibt der britische Choreograf Wayne McGregor denn auch passend sein Bacon gewidmetes Auftragswerk für das Ballett der Pariser Oper. Der Architekt John Pawson verwandelt dafür die Riesenbühne der Bastille-Oper in einen Flügelaltar, ein Triptychon, wie es auch Bacon vielfach entworfen hat. McGregor, der hier hauptsächlich in intimen Konstellationen zwischen Soli und Quartett arbeitet, kann so seine Protagonisten in Einzelräumen isolieren, beim Schließen der Flügel bedrängen und mit Gazevorhängen und Lichteffekten in neue Situationen überführen.
Dazu liefert das Ensemble Modern mit vier Jazz-Solisten einen aufregenden musikalischen Untergrund: Mark Anthony Turnage‘s ebenfalls von Bacon inspiriertes Werk „Blood on the floor“. Da dürfen in neun Charakterstücken auch mal E-Gitarren aufschrillen, mischen sich Trompeten-Schreie in den stilleren Verlauf, ballen sich Orchester-Klänge und Schlagzeug- Rhythmen. Von fern klingt mal Strawinskys „Sacre du printemps“ an. Atemberaubend, wie sich die Tänzer des Pariser Opernballetts in die verstörende Atmosphäre dieser abstrakten Seelenanatomie stürzen, sich die athletische Bewegungssprache McGregors anverwandeln. Die kantige Kleinteiligkeit der Bewegungen, das Herausrollen der Schultermuskeln, halbe Einknicken der Knie erinnern zuweilen wirklich an anatomische Modelle in Aktion. Gleichzeitig erscheinen die Figuren auf diese Weise antikisch-faunisch, erinnern gerade im Profil auch an Nijinsky. Und manchmal wirken sie so auch einfach nur schmerzlich verzerrt und blockiert.
McGregor will ausdrücklich kein biografisches Handlungsballett liefern, und doch sind Assoziationen an die Homosexuellen-Szene bei Bacon natürlich präsent, dessen Geliebter Selbstmord beging. Faszinierend bauen so gleich am Anfang der weichere Mathias Heymann und der herausfordernd selbstbewusste Jérémy Bélingard ein erotisches Spannungsverhältnis auf. Heymann zieht bloß die Jacke aus, lässt sich so ein auf die Beziehung, die zum kraftvollen Ringen wird bis zum Biss in den Arm. Auch die Ballerinen reißen die Münder auf, werden von würgenden Ellenbogen umschlossen, breiten die Arme aus wie der Gekreuzigte. Damit zitiert McGregor durchaus reichlich aus Bacons Bildern.
Zuletzt senkt sich der Gazevorhang vors Geschehen wie in Bacons verwaschenen Gemälden. Das entspricht der diffusen Lebenssituation des modernen Menschen, seinem immer wieder lustvoll-athletischen, wenngleich vergeblichen Aufbegehren gegen die allgemeine Beziehungslosigkeit und die Leere des Raums. McGregors „Anatomie de la sensation“ ist eine herausragende Produktion, in der vom Ort über Bühne und Musik bis zum kleinsten Bewegungsdetail alles zusammenstimmt, eine großartige Würdigung Bacons, der hier beklemmend in Dreidimensionalität und Bewegung gesetzt wird. Bravo.