Foto: "Ausser sich" am Maxim Gorki Theater © Ute Langkafel
Text:Manfred Jahnke, am 13. Oktober 2018
„Ausser sich“, der 2017 erschienene Debütroman der Dramatikerin Sasha Marianna Salzmann, erzählt von der Suche Alissas nach ihrem verschollenen Bruder Anton. Sie bricht nach Istanbul auf, dem Ort, von dem seine letzte Nachricht kam. In Bars lernt sie den Transgender Katho kennen, der als Tänzerin arbeitet. Während sie sich immer mehr in die Fragen nach der eigenen Identität verstrickt und sich dabei entgrenzt, beginnt sie, ihre jüdische Familiengeschichte zu rekonstruieren, die Flucht aus Russland nach Deutschland, die Begegnung ihrer Großeltern. So entsteht ein ganzes Bündel an Geschichten der Getriebenheit, eingebunden in die Ereignisse in Istanbul, die Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung.
Im Roman werden alle Episoden aus der Familiensaga von der Erzählerin zusammengehalten als Folie eines schmerzhaften Erkenntnisprozesses. Wie aber, wenn diese Saga auf die Bühne kommt? Obwohl Salzmann am Maxim-Gorki-Theater als Hausautorin engagiert war, übernahm sie nicht die Dramatisierung ihres Prosawerks. Anna Heesen (Dramaturgie) und Sebastian Nübling (Regie) haben diese Aufgabe übernommen. Sie treiben die Überblendungen und Spiegelungen der Vorlage noch weiter. Alissa verdoppelt sich in Kenda Hmeidan und Sesede Terziyan. Selbst Margarita Breitkreiz, die anfangs die Katho spielt, verwandelt sich mit der Zeit in Alissa und am Ende tritt Mehmet Atesçi mit einem langen Monolog als Anton auf. Dramaturgisch bedeutet diese Vervielfachung der Figur eine Konzentration auf den Erfahrungs- und Entwicklungsprozess von Alissa. Ihr Innenleben wird in Handlungen eines Kollektivs umgesetzt, so dass hier nun eine ganze Generation entwurzelter Menschen auf der Suche nach dem eigenen Ort in der Welt agiert, Menschen auf der Flucht. Merkwürdigerweise werden dabei die gegenwärtigen politischen Bezüge – die Türkei Erdogans – heruntergebrochen, so dass die Familiensaga neben der Identitätssuche und der Sehnsucht, sich in einen Mann zu verwandeln, im Zentrum der Aufführung steht.
Einerseits entstehen flirrende Geschichten, die einem den Boden unter den Füssen wegreißen und den Zuschauer in das Kraftfeld auf der Bühne hineinziehen, andererseits wird man wieder abgestoßen, weil einem keine Zeit für eine Orientierung gelassen wird. Anton kommt am Ende zur Einsicht: „Man sollte irgendwas erzählen, ist doch egal, was stimmt.“ In den Überschneidungen und Spiegelungen, sowie den Brüchen in der Erzählung, verschwimmen die Konturen der Figuren ineinander. Und das Wort „Erzählung“ ist ganz wörtlich zu nehmen, Heesen und Nübling montieren Segmente aus dem Roman zu monolithischen Textabschnitten, unterbrochen durch Dialoge, wie die zwischen Alissa und Katho. Magda Willi hat dazu gestaffelte Spielräume geschaffen, die nach hinten durch eine durchsichtige Wand abgeschlossen werden, die zugleich Spiegelreflexe zulässt. Nach vorne wird das Portal verhüllt mit Plexiglaselementen. Nübling nutzt diesen Raum extensiv, Figuren verdoppeln, verdreifachen, vervierfachen sich in der Spiegelwand. Gleich zu Beginn lässt er einen Ventilator hereintragen, ein Mikrofon verstärkt die Geräusche, nacheinander kommen alle Darsteller auf die Bühne, greifen unter ihr T-Shirt (Kostüme: Svenja Gassen) und lassen das Herz sichtbar flattern. Immer wieder fallen Nübling solche Bilder in seiner lauten Inszenierung ein, die von einem starken Spieltempo angetrieben wird, unterstützt von den zumeist türkischen und russischen Melodien, die Polly Lapkovskaja spielt und singt. Falilou Seck in den Väterrollen und Anastasia Gubareva in den Mütterrollen ergänzen das Ensemble. Am Ende dann bleibt Frage: „Wie kann man überhaupt etwas über sich sagen?“ Anton stellt sie, aber da bleibt unsicher, ob es ihn denn wirklich gibt, obwohl er auf der Bühne ist.