Android Q1 (Wencke Kriemer de Matos) und Ben (Holger Uwe Thews)

Eine ganze (androide) Welt

Sandra Huimann mit Wencke Kriemer de Matos und Holger Uwe Thews: Coppélia - Android Q1

Theater:Landesbühnen Sachsen, Premiere:01.02.2019 (UA)Vorlage:Der SandmannAutor(in) der Vorlage:E.T.A. HoffmannRegie:Sandra Huimann (Inszenierung), Wencke Kriemer de Matos (Choreografie)Musikalische Leitung:Jörg SchittkowskiKomponist(in):Jörg Schittkowski

Der tote IT-Techniker Ben versinkt in Plastikfolie. Daneben kauert Android Q1 – von Spiegeln vervielfacht wie die heilige Dreifaltigkeit. So endet in der Uraufführung des Tanz-Schauspiels die Überlegenheit der Spezies „Homo sapiens“, aber noch ist kein „Homo Deus“ in Sicht. Vor wenigen Tagen erst zeigte das Theater Erfurt mit Steve Reichs Video-Opera „Three Tales“ die Katastrophen, die aus dem göttlichen Auftrag „Macht euch die Erde untertan“ auf den Bikini-Atollen und mit dem geklonten Schaf Dolly entstanden. Jetzt malt die Co-Produktion der Sparten Tanz und Schauspiel im Studio der Landesbühnen Sachsen nach Yuval Noah Harari und anderer ein böses Bild der schönen neuen Androiden-Welt. Der von der Regisseurin Sandra Maria Huimann entwickelte Plot „zum Thema Transhumanismus“ (so der Untertitel) spielt, von der Dramaturgie (Judith Zieprig) nach Kräften aufgeladen, mit Alptraum-Szenarien, Zukunftsängsten und (an einem Nebenschauplatz) mit allerlei Plattitüden zur zeitgemäßen Geschlechterrollen-Diskussion.

Das ist sehr viel für nur einen Abend. Theoretische Überfülle wird gestraft mit einigen zu gut gemeinten Längen. Absolut glänzend gelingt in diesem Zweipersonenstück dafür die Synthese aus Tanztheater und Schauspiel: Wencke Kriemer de Matos hat sich in mindestens vier Updates des Androiden Q1 selbst choreographiert, Holger Uwe Thews rettet sich vor der ihm hier reichlich aufoktroyierten toxischen Männlichkeit in menschliche Naivität. Ob das so gemeint war…? In 2,5 Stunden gibt es einige Längen, weil die Autorinnen mit umfangreichen Wissenstransfers nicht geizen. Dass der Abend dennoch keineswegs zu lang ist, dankt man den beiden Darstellern. Der IT-Techniker Ben soll einige Defekte in einem „Smart House“ korrigieren, trifft da aber anstelle der Eigentümer auf den zuerst etwas befremdlichen  Androiden Q1. Schritt für Schritt lässt sich Ben auf die Maschine ein, Schritt für Schritt bemächtigt sich diese durch „Lernen mittels Feedback-Funktion des Entstehungsbaumgenerators“ aller mentalen Eigenschaften, Vorlieben, physisch-genetischer Defekte und offenbar von einer chronischen „Kind-im-Macho“-Influenza gesteuerten Triebhaftigkeit Bens. Die lange erste Sequenz ist ein Alptraum. In diesem heilt Android Q1 die Sehschwäche Bens durch die Implantation eines Kunstauges, das an das synthetische Sehen von Q1 angekoppelt ist. Damit dringt Q1 auch in Bens Psyche ein, doch dessen Gehirnfunktionen sind dem Overflow der Bilder aus den technischen Eingeweiden nicht gewachsen. Das Experiment im Traum misslingt. Vorerst.

Doch kurz vor seinem Tod, einem Symbol für Bens psychische Kapitulation, bietet ihm Q1 in einem Pakt das gesamte technisch generierte Wissen. Denn Menschen sind sinnlos, weil biologische Intelligenz sich kaum ändert, künstliche dagegen im Blitztempo expandiert. Aber der Mensch hat das Privileg des Schmerzes, der Androiden unbekannt ist. Diesen will Q1 von den „Human Resources“ als Lustkick für ihre vergnügungsneutrale Existenz abzapfen. Doch das verkraftet der biologische Organismus Ben nicht und stirbt. Q1 versinkt jetzt, ohne menschlichen Auftrag vollkommen sinnfrei, in etwas, was bei biologischen Organismen Lethargie heißt.

Sandra Maria Huimann verhandelt also eine ganze (androide) Welt. Jörg Schittkowskis Komposition umfasst Geräusche, Soundtracks zu visuellen Lichtspuren und Katzenbildern, sphärische PC-Sounds. Auch die Texte des Androiden Q1 kommen von der Tonspur. Das erzeugt Beklemmung nicht durch Faszination, sondern die für biologische Organismen aus dem medialen Überfluss entstehende Monotonie. Irina Steiners karge Bühne hat in den virtuellen Manifestationen außer einer klassischen Ledercouch keinen Komfort. Der Schauplatz mit dem kleinen Rechenzentrum, Alibi-Grünpflanzen und Milchglas könnte eine Physiotherapiepraxis sein, oder ein hygienisch einwandfreier Swingerclub.

Durch Updates wird Q1 von der fleischfarbig kahlen Basisversion zur noch unzureichend hilflosen Barbie-Ausgabe. Doch der Vamp optimiert sich, versteht sogar Ironie: Das beginnt mit der unauffälligen Aneignung von Bens Vorliebe für Pizza mit grünen Gummibärchen und gipfelt in der einwandfreien Transformation zum Vamp mit roten Stiefeln.
Erstaunlich, mit was für einem dramatischen Turbotempo Sandra Maria Huimann und Judith Zieprig fast alles Nützliche aus der Stoff- und Motivgeschichte aufgreifen: die Versuchung des Menschen zur Hybris, die Kollision zwischen Konstrukteur und technischer Kreatur, den triebgesteuerten Mann, die Einsamkeit des synthetischen Wesens. So gründlich ist die totale Überschreibung, dass der Name von Délibes‘ berühmtem Ballett wohl versehentlich im Titel blieb: Neben einem Salon-Csárdás ist die originale Musik dazu der einzige „Ausrutscher“ Richtung „Klassik“, wenn Android Q1 kurz romantisches Bewegungsvokabular aus „Coppélia“ zitieren darf. Wencke Kriemer de Matos kann neben der bewundernswert gehaltenen Starre und Drahtigkeit ihren Kollegen vom Schauspiel immer wieder in plausibel motivierte Tanzmomente hineinziehen. Sattes Plädoyer für die gründliche Stoffzertrümmerung: Das hat weder mit dem Horror vor einem Automaten in E. T. A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“ zu tun noch mit dessen spielerischer Auflösung im Ballett „Coppélia“, in dem ein Mädchen den Androiden-Vorläufer imitiert und so menschliche Überlegenheit beweist. Denn mit letzterer ist es in „Android Q1“ aus und vorbei. Dabei hat der Abend auch seine komödiantischen Stellen. Zum einen eher für Erwachsene, wenn Android Q1 einige physische Reaktionen Bens (erhöhter Puls, flaches Atmen) nicht als sexuelle Erregung, sondern als Angstimpulse rezipiert. Andererseits der Beginn: Da hastet Ben an seinen Endgeräten von Kundenbewertungen, Messages mit steilen Bildern zu absurden Kaufangeboten. Das hat den überdeutlichen Charme von aufklärerischem Jugendtheater.

Neben der konzeptionellen Gedankenfracht vertraute man offenbar nicht der Wirkungsmacht gestischer Theaterzeichen. Dafür gab es viel Bildung, ein fast zu sympathisch geratenes Beispiel für toxische Männlichkeit und das beeindruckend engagierte Dossier über die Risiken in einer technisch geprägten Gesellschaft.