Foto: Szene aus John Neumeiers Uraufführung „Dona Nobis Pacem”
© Kiran West
Text:Vesna Mlakar, am 6. Dezember 2022
Im Saal ist es noch hell und der Vorhang geschlossen. Plötzlich stürzt ein junger Soldat durch die seitliche Portaltür. Angst steht ihm ins Gesicht geschrieben. Er wirft sich flach hin und robbt um den Orchestergraben herum. Am anderen Ende angekommen, bäumt er sich kurz auf und sinkt dann, schwer atmend, schockstarr zu Boden. Wirklichkeitsnäher geht die Übermittlung von Unsagbar-Schrecklichem auf der Bühne kaum. „Dona Nobis Pacem“ – John Neumeiers 172. Uraufführung – beginnt abrupt und realistisch hart.
Mit seinem Fluchtmanöver bringt Tänzer Louis Musin die Blase „heile Welt und schöner Schein“ zum Platzen und das vorweihnachtlich heiter-plauderfreudige Publikum in der Hamburgischen Staatsoper schlagartig zum Verstummen. Den Auftrittsapplaus für Holger Speck, den famosen Dirigenten des insgesamt überaus eindrücklichen Abends, bremst er damit regelrecht aus. Der bekommt ihn dennoch – wenn auch nur zögerlich. An etablierten Konventionen hält man eben gern fest.
Schonungslos konkrete Chreografie
Jedenfalls geht Neumeier als Choreograf sofort in medias res. Die unmenschlich-düsteren Facetten des Sujets beackert der 83-jährige Meister, der auch selbst für Bühnenbild, Kostüme und Lichtstimmungen verantwortlich zeichnet, – ganz fokussiert auf kriegerische Dimensionen – schonungslos konkret unter Einsatz von Versatzstücken, die man von ihm bereits kennt: die mobilen, halbseitig goldenen Backsteinwände aus „Verklungene Feste“, interagierender Personengruppen und so manche choreografischen Selbstzitate.
Ungewöhnlich anders kommt bei all dem die durchweg starke, vom gesamten Ensemble ausgehende Konzentration über die Rampe. Bloß einstudieren lässt sich das als Effekt nicht. Alle Interpreten – seien es stille, tragische Charaktere oder eine Gruppe bezaubernd fröhlich umherspringender Mädchen – leuchten regelrecht aus dem Innersten heraus. Ungeschminkt lassen ihre Mienen sie in den unterschiedlichsten emotionalen Regungen strahlen. Dabei bleibt das Schrittvokabular meist verblüffend einfach und bisweilen freizeitmäßig alltäglich – wie querende Jogger im finalen vierten Teil.
Manchmal konterkarieren Bewegungen der Arme und scharfe Kicks der Beine fast allzu hektisch den wunderbaren Fluss von Bachs Musik. Trotzdem bleibt diese stets das strukturgebende Fundament für ganze Reihenformationen von Tänzern, Solos, Duette oder Quartette. Hier bringt Neumeier eine sehr schöne Passage, in die er seine männliche Hauptpartie (Aleix Martinez als „ER“) integriert. Nach der Pause im „Symbolum Nicenum“ benannten zweiten Teil wiederholt sich diese mit einem weiblichen Alter Ego (Ida Praetorius als „SIE“). Das Vocalensemble Rastatt, die Starklasse-Solisten Marie Sophie Pollak (Sopran I), Sophie Harmsen (Sopran II), Benno Schachtner (Altus), Julian Prégardien (Tenor) und Konstantin Ingenpass (Bass) sowie das versierte Ensemble Resonanz lassen dazu keine Wünsche offen.
Durch abstrakte Überhöhung oder pure, tänzerisch ausformulierte Reinheit überwältigende Sequenzen, in denen Tanz und Musik sich absolut eins zu eins gegenseitig beflügeln, gibt es erstaunlich wenige. Genau solche bleiben aber im Gedächtnis haften wie eine Explosion von Trost, Hoffnung und Glück: beispielhaft im zweiten Teil, wenn der Erste Solist Alexandr Trusch zu „Et in Spiritum sanctum“ mit unglaublich kraftvoller Leichtigkeit tanzt.
Symbol der atomaren Auslöschung
Dem dunklen Gegenpart sind wir bereits am Ende des ersten Teils der „Missa“ (Kyrie und Gloria) begegnet. Es handelt sich dabei um die vom Fotografen des Ensembles, Kiran West, als Videoprojektion unmissverständlich aufbereitete Hiroshima-Szene. Alessando Frolas rohe, hampelnde Nacktheit hinter der dazu herabgelassenen durchsichtigen Projektionsfläche wird zum Symbol für die atomare Auslöschung von Leben – wie der in dem als Brechung laut rezitierten Gedichtes von Günter Kunert beschriebene Schatten unter einem Brückenbogen der vernichteten Stadt.
„Weil das nicht nur Teil des Stücks ist, sondern eine ganz konkrete Gefahr, mit der wir in diesem Jahr konfrontiert sind“, hat vor allem diese Passage den anwesenden Bundeskanzler Olaf Scholz so sehr berührt. Seine eindringlich-direkt-ehrliche Ansprache bei der Premierenfeier mögen die politische Brisanz und den sowieso schon allmächtigen Gegenwartsbezug der Produktion noch gesteigert haben. „Die Spannung, die wir jetzt, in dieser Zeit, wohl alle spüren“ sei in Neumeiers Choreografie „mit Händen zu greifen“. Wohl wahr.
Die Krux ist, dass die lose in Episoden bildstark aufgefächerten Inhalte von „Dona Nobis Pacem“ so maßlos von der Realität überholt worden sind. Paradoxerweise macht genau dieser Umstand, den zu Beginn des Projekts weit vor dem 24. Februar 2022 niemand hatte ahnen können, zugleich die aktuelle Relevanz dieser Premiere aus – selbst wenn Neumeier einen derartigen Bezug ursprünglich gar nicht herstellen wollte. Nun gibt es ihn, obwohl „Dona Nobis Pacem“ zu Bachs „Messe in h-Moll“ sonst jede stringente Erzählebene fehlt.
John Neumeier und die sakrale Musik
Anders als in „Matthäus-Passion“, „Magnificat“ und „Weihnachtsoratorium I-VI“ (alle zu Musik von Bach), Mozarts „Requiem“ oder Händels „Messias“ wartet man auf sich konsequent entwickelnde Handlungsstränge vergebens. Doch John Neumeier wollte offenbar auf bewährte Art und Weise ein – vorerst? – letztes Mal alles geben: als Choreograf und gläubiger Mensch, den künstlerisch immer wieder die Frage einer Umsetzung auch sakraler musikalischer Meisterwerke in Tanz beschäftigt hat.
Die Szenen zu Beginn gehören allein seinen Protagonisten – da bleibt Neumeier, der einmal mehr mit den Mitteln seiner Kunst visuell zu imponieren weiß, seiner dramaturgischen Fasson, Stücke zu entrollen, treu. Auf der Bühne wird eine Betonwand mit Fotos Verstorbener bzw. Gesuchter sichtbar. Daneben gibt eine breite Öffnung den Blick auf Maschendraht und die Sandsäcke eines Schützengrabens frei. Letzterer hatte schon in Neumeiers „Duse“-Ballett eine atmosphärisch wichtige Rolle. Wie dort tummelt sich auch in „Dona Nobis Pacem“ ein fiktiver Fotograf. Als Pressevertreter erkundet er das Terrain. Was ihn berührt, das hält er – das gesamte Stück über – mit seiner Kamera fest. Seine Figur, die teilweise sogar eine Sprechrolle ist, hat etwas sehr Verbindendes. Der Zuschauer folgt ihr und hört ihr zu.
Kreieren durfte den Part der junge Gruppentänzer Lennard Giesenberg. Womit er nun zu glänzen versteht, ist alles andere als technisches Heckmeck. Angesichts des inszenierten Leids, der Zerrissenheit und sich bisweilen parallel dazwischen schiebender Tableaus positiver Messages und Energie strahlt Giesenberg eine zurückhaltende Ruhe aus. Er verkörpert jemanden, der innere Bewegtheit durch ein Kameraobjektiv festzuhalten und gleichzeitig zu begreifen versucht, was seine Augen sehen müssen.
Beim Knipsen der Toten trifft der Pressefotograf auf eine Witwe (Anna Laudere), die mütterlich-warmherzig ihren Mantel jenem Soldaten umlegt, der weiter reglos am Portalrahmen zusammengesunken kauert. Enorme Bedeutung gewinnt in diesem Ballett das darstellerische Element – bis hin zum Erscheinen des Ersten Solisten Aleix Martinez. Er trägt einen weißen Koffer mit sich, ein bei Neumeier oft wiederkehrendes Requisit. Einmal fallen ihm Erinnerungen in Form von Fotos und einem Kinderspielzeug heraus. Später wiegt er zu schwer, um ihn von der Bühne zu schieben. Martinez vermag sich dahinter nahezu komplett unsichtbar zu machen. Auch in seinem Gestenvokabular schrumpft er oft in regelrecht butohesker Manier in sich zusammen. Krieg und Vertreibung werden in ihrer für jeden machtlosen Beobachter aufwühlenden Unfassbarkeit durch seine dominante, im Sondieren von Situationen anders geartete Gefühlspräsenz unweigerlich allgegenwärtig.
Was für eine aufreibende Partie, zu der Aleix Martinez gewiss selbst viel kreativ beigetragen hat. Sie ist handwerklich und tänzerisch raffiniert gestrickt und ermöglicht Neumeier, der häufig mit der Wirkung von Kontrasten arbeitet, immer wieder aufs Neue gegensätzliche emotionale Ausdrucksebenen miteinander zu verzahnen. Auf wundersame Weise bleibt damit das Gebethafte, die Sehnsucht im Rahmen einer Messe bis zum Schluss gewahrt. Ganz am Ende knien die Tänzer nieder und strecken jeweils einen Arm mit nach oben gedrehter Handfläche nach vorne aus. Für seine Friedensbitte genügt Neumeier nach zwei Stunden beeindruckender kitschfreier Tanz- und Spielleistungen (trotz weißer Türen, die die Gefallenen in weißes Licht führen) eine einzige, summierende, schlichte Pose. Nicht alles war, aber das ist grandios.