Foto: "Das beste aller möglichen Leben" am Schauspiel Essen. Stefan Diekmann, Marcus Staab, Stephanie Schönfeld © Thilo Beu
Text:Hans-Christoph Zimmermann, am 3. Oktober 2015
Natürlich ist sie eine Illusion: Gottfried Wilhelm Leibniz‘ berühmte Behauptung der „besten aller möglichen Welten“ geht allenfalls als logisches Konstrukt durch. Ist faktisch nicht haltbar. Ein Fall für ätzenden Sarkasmus, den dann Voltaire auch gnadenlos darüber ausgegossen hat. Nichtsdestotrotz: Ohne Optimismus geht es nicht, zumindest im Privaten. „Das beste aller möglichen Leben“ sollte es schon sein. Vielleicht ist ja alles nur eine Frage der Möglichkeiten. Wer allerdings als Setting für dieses beste Leben die Kleinfamilie wählt, muss ein Freund des schwarzen Humors sein. Noah Haidle beschert seinen Protagonisten Naomi und East in ihrem längst schal gewordenen Beziehungsdasein eine unbefleckte Empfängnis: Morgens um fünf finden sie vor der Haustür ein Körbchen mit einem frisch geborenen Baby. Gewünscht hatten sie sich den Nachwuchs zwar, aber so nun auch wieder nicht. Stephanie Schönfelds Naomi schwankt zwischen Emphase, Babysprache und koketter Beziehungsarbeit, der sich Marcus Staab als East im blauen Anzug mit der üblichen Ausrede widersetzt: Falscher Zeitpunkt – nur um dann dem Baby HipHop vorzuspielen und -zutanzen. Es ist ein vermeintlich realistischer emotionaler Schüttelkurs, den Haidle seinem Paar kurzzeitig gönnt, bevor er es durch ein surreales Experiment jagt. Denn das Baby mit Namen Christopher wächst in Zeitraffer und durchlebt ein ganzes Menschenleben in gerade einmal zwei Stunden. Bereits im Körbchen beginnt es zu tanzen und zu sprechen. Eine elektronische Babystimme quäkt aus dem Off und beginnt bereits, die Wahleltern zu manipulieren. Der erste Wachstumsschub bringt dann den Pubertierenden leibhaftig auf die Bühne.
Thomas Krupa verortet das Geschehen in einem orangeroten Bühnenkasten, aus dem nur eine kleine Schiebetür herausführt und dessen Decke mit jedem Wachstumsschub ein Stück herunterfährt. Stefan Diekmanns Christopher ist ein altgewordenes Kind: schwarze Kniehosen (Kostüme: Johanna Denzel), lange Haare, Lackschuhe. Altklug führt er einen Gottesbeweis, löst mathematische Problemstellungen, serviert seinen neuen Eltern eine Mahlzeit, schwadroniert über die Liebe und entwickelt Züge tartuffehafter Manipulation. In Essen scheint Christopher allerdings einem Science Fiction-Film entsprungen: Die Alterslosigkeit, die elektronischen Sounds, die Emotionslosigkeit der Figur. Bei Haidle ist Christopher dagegen ein nackter Mensch mit Windel, eine ins Absurde verkehrte Ecce-Homo-Figur, die nach den Möglichkeiten von Glück, Sinn und Empathie fragt. Angesichts wiederkehrender Streits seiner Eltern gebärdet er sich als Evolutionsfanatiker. Doch sein emotionaler Entwicklungsexpress führt ihn nur durch alle menschlichen Höhen und Niederungen: Er liebt seine Eltern und vergewaltigt sie, schreibt Gedichte, spielt Chopin, tituliert seine Mutter als „Fotze“, legt die Hand auf die Herdplatte, um intensivere Gefühle zu haben, nimmt Drogen, beweist die Absenz Gottes, bekehrt sich zu ihm. Die kritische Frage nach dem Sinn ist berechtigt, eine Lösung allerdings nicht in Sicht.
Haidles Text ist extrem anspielungsreich, sein Sarkasmus trifft die Familie genauso wie idealistische Erziehungsmaximen, die Vergötzung von Kindern oder amerikanische Bekehrungsgeschichten. Die leichtfüßigen, pointensatten Dialoge, wie auch das real-absurde Setting lässt mehr an Edward Albee denn an Beckett denken – und zwar den Albee sowohl der „Zoogeschichte“ wie auch von „Wer hat Angst…“. Es sind Naomi und East und ihre ständigen Streits übers Saufen, über Tablettensucht, Lieblosigkeit, Kinderwunsch, die dann doch so etwas wie Struktur schaffen. Das leere Ritual des Alltags als Sedativ angesichts der Sinnlosigkeit. Oder doch als Sinn? Krupas Uraufführungs-Inszenierung in der Essener Casa tunt das Stück formalistisch ins Groteske hoch, lässt elektronische Sound einspielen und nimmt dabei auch brutalen Stellen wie der Vergewaltigung ihre Drastik. Das funktioniert trotzdem erstaunlich gut, auch wenn man sich das bedrängender vorstellen kann. Am Ende, wenn Christopher schließlich an Alterschwäche stirbt, fährt die Decke fast vollends herunter: Der Raum der Möglichkeiten ist ausgeschöpft – glücklicher sind wir immer noch nicht.