Foto: vorne: Paulo Ferreira (Gabriele de la Gardie), Miriam Clark (Cristina), Melanie Lang (Maria Eufrosina), Daniel Moon (Carlo Gustavo), hinten: Opern- und Extrachor © Stephan Walzl
Text:Jens Fischer, am 22. Mai 2016
Winzig klein wirkt das streng bezopfte Mädchen – vor den riesengroßen Porträts ihrer streng dreinblickenden Ahnen in der familiären Gemäldegalerie. Im finsteren Businessanzug steckt der kinderfidele Körper. Gestisch auf Machtposen fixiert, darf er sich nur austoben, wenn Erzieher mit Holzschwertern zum Kämpfen animieren. Ja, diese Christina darf keine Prinzessin werden wollen, sie wird auf ihren Job als schwedische Königin vorbereitet: zum Herrschen gedrillt. Während die Ouvertüre ihrer Lebensgeschichte ganz anders klingt. Das Oldenburgische Staatsorchester veredelt nämlich unter Vito Cristófaro die Architektur der mit reichlich musikalischem Stuck versehenen Handlungsmotive so geschmeidig beschwingt zu einem schwebenden Klangpalast, dass es eine wahre Freude ist. Aber eben nicht diese Leichtigkeit, sondern den Familienauftrag, kaltherzige Bestimmerin statt warmherzige Glückssucherin zu sein, steigt Christina zu Kopf. Sie wird ein zynisch eitler Machtmensch.
Jedenfalls in Michael Sturms formidabler Inszenierung von „Cristina, Regina di Svezia”. Es ist die deutsche Erstaufführung der Oper von Jacopo Foroni. Foroni? Vergessen von der klassischen Musikgeschichtsschreibung und den Spielplanmachern der Opernhäuser. 1825 bis 1858 lebte der italienische Komponist. Er stieg in stürmend-drängender Jungsmanier auf die Mailänder Barrikaden gegen die regierenden Habsburger – und floh nach der Niederschlagung des 1848er-Märzaufstandes als Dirigent einer Operntruppe nach Schweden. Für den nächsten Karriereschritt, als Flüchtling den Zutritt in höhere gesellschaftliche Kreise zu erlangen, und als Dankschön fürs Asyl gewährende Land vertonte Foroni die Biografie einer ihrer Heroinen. Laut Programheft war die Musik dem gerade amtierenden König, das Libretto der Königin Mutter gewidmet. Die „Cristina”-Uraufführung wird als Triumph beschrieben, Foroni daraufhin der Wasa-Orden umgehängt. Hofkapellmeister ist er ab sofort. Nicht nur Opern seiner Heimat präsentierte er fortan, auch nördlich der Alpen entstandene Sinfonien und Oratorien. Die „Cristina” aber verschwand nach Foronis frühem, der Cholera zugeschriebenem Tod in den Archiven. Wurde erst 2007 in Schweden wiederentdeckt und 2013 beim Opernfestival im irischen Wexford auch einem internationalen Publikum bekannt. Den Komponisten feierte man als besseren Verdi. Nun ja, Foroni steht ihm jedenfalls kaum nach, prunkt satztechnisch zudem mit enormer Verdichtung und schien offen für klangmalerische Innovationen aus dem Romantik-Deutschland.
Seiner Herkunft gemäß schuf Foroni – für die Mitte des 19. Jahrhunderts – typisch italienisches Musiktheater. Auf dem Entwicklungspfad von der Nummernoper zur individuellen Charakterschilderung wird eine historische Person instrumentalisiert, um mit erfundenen, genreüblich verwickelten Liebes-/Eifersuchtsgeschichten zu rühren. Im melodramatisch wogenden Belcanto-Stil. Und abgeschmeckt mit der üblichen Gewürzmischung: üppige Gefühlsäußerungen werden aufgeputscht durch Kampfeshandlungen, riesige Menschenmassen erheben unisono ihre Stimme, es gibt dramatisch effektvolle Begegnungen des Personals, extravagante Arien der Heldin und den Zwiespalt zwischen Pflicht und Neigung.
Ob solistisch, im Ensemble, chorisch gesungen wird, in Oldenburg geschieht all das etwas angeberisch (wegen der Live-Übertragung im Radio?). Auch das Orchester kommt nach der fluffigen Ouvertüre zu einer zunehmend robusteren Interpretation, bietet keine federnden Rhythmen mehr, sondern walzert und marschiert über die feinen kammermusikalischen Zwiesprachen der Instrumente, das Zusammenführen ihrer Klangfarben hinweg. Mehr Subtilität und Raffinesse sowie mehr Dezenz in Sachen Lautstärke wäre der Partitur besser bekommen.
Als hochenergetische Überwältigungsmusik passt sie aber sehr gut zur ersten Szene. Christina wird zum Ende des 30-jährigen Krieges gekrönt – auf der Bühne ist der Chor der Hofschranzen aber in trutschigem 1940er-Jahre-Zwirn gewandet, lauscht zuckend den letzten Detonationen aus dem Orchestergraben (obwohl Stockholm nicht nur 1945 frei von Bombenangriffen war) und schwenkt dann schwedische Fähnchen. Endlich Frieden. Die Monarchin trägt noch immer den finsteren Businessanzug, natürlich nun etliche Nummern größer, und wirkt darin als Erwachsene: matronenhaft. Eine ihr zum Küssen dargebotene Männerhand verschmäht sie, umzärtelt lieber die Cousine Maria (Melanie Lang), schubst sie aber sogleich ihrem Geliebten Gabriele (Paulo Ferreira) zu und zeigt das, was sie als Kind wohl nicht durfte: Sie spielt mit dem Stückpersonal wie mit Puppen. Ist eine Egozentrikerin mit Spaß am Manipulieren. Eine einsame Despotin. So entreißt sie dem nun vollends verwirrten Gabriele seine Herzdame wieder, gerade als beide in den Kussmodus fallen, und rollt mit Maria knutschend über den Boden. Michael Sturm inszeniert das geschickt ambivalent. Es bleibt unklar, ob Christina all das aus lesbischer Lust oder als provozierende Demonstration ihrer Stärke tut. Denn andererseits macht sie keinen Hehl daraus, selbst Gabriele an die Wäsche zu wollen. Also muss Nebenbuhlerin Maria weg. Aus machtpolitischen Erwägungen soll sie mit dem Sohn des Kanzlers verkuppelt werden. Empörung. Tränen. Große Oper? Nein, der stets bildkräftig mehr als das dürftige Libretto erzählende Regisseur zeigt das verzweifelte Duett von Gabriele und Maria als einen Disput ohne Augenkontakt. Lässt den verwirrten Liebhaber einen Stuhl ansingen und seine Aggression ertragen, als wäre dieser Christina. Hübsch kontrastiert wird die Zwangsheirat bei der kirchlichen Eheschließung: Maria platzt fast vor Wut, der für sie ausgewählte Partner vor Stolz, während alle Hochzeitsgäste turtelnde und aneinander vergnüglich herumfummelnde Paare sind.
Wer ist diese Christina? Am Eisernen Vorhang hängt ein Porträt (nach einem Gemälde David Becks, 1650), auf dem kein Liebreiz ihr Antlitz, kein Mona-Lisa-Lächeln ihre Lippen umspielt, nachdenklich bis ängstlich funkeln die Augen, dazu unsicheres Nesteln am Kleid. Dieser Stimmungslage entspricht die „Enttäuschung” überschriebene Szene des 2. Akts. Christina hadert mit ihrem Werden und Sein. Bis eine Bande Umstürzler als wahre Thronräuber auftreten, nämlich Christinas gülden bepinselten Sessel entwenden. Da schreiten die Royalisten zur Verhaftung. Die Königin aber hat nun endgültig genug vom Regieren, holt ihre Ahnen von der Wand, emanzipiert sich also von ihrer Geschichte – und dankt ab. Versöhnt, nämlich händchenhaltend mit dem Kinderdouble des Anfangs, entschreitet sie dem royal blauen Gefängnispalast. Christina will zukünftig versuchen, abseits höfischer Zwänge „Frieden zu finden im Lachen der Künste”. Laut Geschichtsbüchern lebt sie fortan im Vatikan als konvertierte Katholikin, sammelt Kunst, fördert die Wissenschaft, genießt Theater, lädt zu literarischer Salon-Konversation und arbeitet am eigenen Personenkult. In Oldenburg wird sie als Sängerin umjubelt. Miriam Clark beeindruckt in dieser Rolle schon deswegen, weil sie als einzige nicht alles und jeden in Grund und Boden singen will, sondern die ausschwingenden Melodielinien lyrisch zu gestalten versucht. Gerade in den Mittellagen gelingt ihr das mit warmweicher Tonbildung, bei den Spitzentönen aber hat sie Intonationsprobleme. Das Kolorieren wirkt elegant bemüht, weniger virtuos. Das Publikum bringt allen Beteiligten stehend ihre Ovationen dar. Eine unterhaltsame Wiederentdeckung.