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Eine Bühnenweih-Verkorksung

Richard Wagner: Parsifal

Theater:Staatsoper im Schillertheater, Premiere:28.03.2015Autor(in) der Vorlage:Wolfram von EschenbachRegie:Dmitrti TcherniakovMusikalische Leitung:Daniel Barenboim

Der Anfang ist stark. Erhaben und zaghaft zugleich, in sich ruhend und doch hochdifferenziert aufgebrochen, steigen die bekannten Motive aus dem Orchestergraben auf: das Liebesmotiv, das Gralsmotiv, Glaubensmotiv, Erlösungsmotiv… Mit seinem zögernden, im Klang spröden Beginn verweigert Daniel Barenboim am Pult der Staatskapelle Berlin dem „Parsifal“-Vorspiel die affirmative mythische Aura. Und dafür gibt es an dieser Stelle ja auch gute Gründe. Denn zu Beginn dieses Bühnenweihfestspiels sind Weihe des Grals und Würde seiner Ritterschaft schwer beschädigt. Der König ist in Sünde gefallen, der angekündigte Erlöser lässt auf sich warten, der Ritus ist zur mühsam zelebrierten Schmerzensveranstaltung verkommen: Zu diesem Zeitpunkt der Handlung ist da nicht viel zu affirmieren, dafür aber gibt es jede Menge Erneuerungsbedarf. Man glaubt das zu spüren in diesem vom GMD der Lindenoper sehr eigenwillig zelebrierten Beginn.

Das Problem ist nur: Eine Stunde später ist Daniel Barenboim immer noch am Anfang. Auch da zwar ist natürlich noch längst nicht alles in Butter. Denn der Erlöser hat sich mit dem sittenwidrigen Abschuss eines Schwans blamiert und tapert nun blöden Blicks zwischen diesen seltsamen Rittern herum. Aber jetzt müsste ja doch, anders als im gleichsam exterritorialen Vorspiel, der dramatische Impuls der Musik spürbar werden, die sich abzeichnenden Konflikte, der Sog der vorwärts schreitenden Handlung. Aber nichts davon. Barenboim tritt mit der sehr grobkörnig, im aufsteigenden Pathos eher martialisch als mystisch zu Werke gehenden Staatskapelle noch immer auf der Stelle. Und man ist längst verunsichert, ob das immer noch interpretatorische Absicht ist oder nicht doch eher eine Entgleisung dieser Premiere im Rahmen der Festtage an der Staatsoper im Schillertheater, die unter keinem guten Stern stand.

Schon vor Beginn war Intendant Jürgen Flimm vor den Vorhang getreten, weil er eine schwere Indisposition von Anja Kampe, der Kundry des Abends, ansagen musste. Sie arbeitete sich mit geradezu selbstloser Tapferkeit durch diesen Abend, hoffentlich hat ihre Stimme das gut verkraftet. Aber eine gültige Interpretation der Partie war unter diesen Umständen ausgeschlossen. Und es war immer wieder spürbar, wie aufmerksam Barenboim der ihm musikalisch anvertrauten Kranken durch diesen schweren Abend half. Das kam auch insgesamt der interpretatorischen Triftigkeit natürlich nicht zugute. Andererseits war ausgerechnet der zweite Akt, wo Kundry im Mittelpunkt steht, der musikdramatisch schlüssigste. Während es Barenboim im dritten Akt in keiner Weise gelang, der Musik jenen qualitativen Sprung vom Leidenspathos zur Heilung zu verleihen, ohne den die Wiederholungsdramaturgie der beiden Gralszeremonien – die verkorkste des ersten Aufzugs und die erlöste im dritten – sinnlos bleibt. Es blieb bei der Verkorksung.

Leider auch in der Inszenierung des 1970 in Moskau geborenen und nach beachtlichen Arbeiten vor allem in Europa aus guten Gründen hoch gehandelten Dmitri Tcherniakov. Die Gralsburg baut der Regisseur und zugleich auch Bühnenbildner als Kellergewölbe mit Arkadengewände, sie wirkt wie ein Irgendwas zwischen kirchlicher Krypta und gutsherrlichem Gesindesaal. Eine Schrifttafel klärt uns auf, dass die Gralsritterschaft eine abgeschlossene Gesellschaft sei, die in dem Glauben lebe, durch Askese Unsterblichkeit zu erlangen (oder so ähnlich). Na Donnerwetter, wer hätte das gedacht?! Tcherniakov inszeniert sie zunächst als Stehkonvent in durablen Joppen und wetterfesten Mützen (Kostüme: Elena Zaytseva), der sich nur zum Beten niederlegt. Auch Gurnemanz wird, wie der Regisseur, gern mal didaktisch. Dann klärt er die Knappen per Diavortrag über die Gralsgeschichte auf – und die Zuschauer über die Inszenierungsgeschichte, denn man sieht unter anderem das Bühnenbild der Bayreuther Uraufführung. Über Strecken erzählt Tcherniakov entweder gar nichts oder realistisch vom Blatt: „Parsifal“ für Anfänger, auch hier.

Wenn die Regie aber aus der Nacherzählung ausbricht, dann wird es meist abstrus. Um das heilige Blut des Grals zu gewinnen, melkt diese pervers verkommene Männergesellschaft die klaffende Wunde des Amfortas. Sie labt sich also am Sündenblut. Das ist eine krasse Umdeutung der „Reinheit“ des Grals, gegen die aber nichts zu sagen wäre, wenn dann irgendetwas folgen würde, das sie interpretatorisch untermauert. Es folgt aber nichts. Im Grunde ist die Schlusszeremonie genau so pervertiert wie die des Anfangs. Denn ihr vorher geht die brutale Abstechung Kundrys durch Gurnemanz auf der Karfreitagsaue, nachdem Parsifal das hier gar nicht mehr „wilde“ Weib zunächst äußerst liebevoll in seine Gespräche und Riten mit Gurnemanz (Fußwaschung, Salbung, Taufe) einbezogen hatte. Bei der folgenden Zeremonie fließt dann allerdings kein Blut mehr. Alle betouchen Parsifal und verfallen anschließend in hysterische Verzückung.

Weitere Interpretationsideen Tcherniakovs sind zu vermelden. Klingsors Zauberschloss ist ein weißes Ebenbild der erdgrau düsteren Gralsburg: weiblich helle Gegenwelt zur Männerwelt, in sich aber ebenso einseitig und pervertiert. Allerdings sind die Blumenmädchen hier keine „teuflisch holden Frauen“, sondern die unerotischsten Laura-Ashley-Nymphen der Inszenierungsgeschichte. Hier klärt uns eine Schrifttafel auf, dass sie alle Klingsors Töchter seien. Ach so?? Offenbar gehört zu den Künsten dieses Zauberers auch die künstliche Befruchtung. Denn von Oberzeremonienmeister Gurnemanz war ja zu erfahren, dass Klingsor sich kastriert habe, um „in sich selbst die Sünde zu ertöten“. Zwischen ihm und Kundry geht es andeutungsweise zu wie zwischen einem Vater und einer missbrauchten Tochter. Aber da Tcherniakov diesen Klingsor als hibbelig verfuchtelten Hektisierer parodiert, einer wie Mime in mittelmäßigen „Siegfried“-Inszenierungen, hält sich die Dämonie hier in ebenso engen Grenzen wie die Erotik. Letztere wird dann aber doch noch nachgeliefert – in einer von Doubles gespielten Episode aus Parsifals Jugend, in der er von Mama Herzeleide beim Schmusen mit einem süßen barbusigen Mädel erwischt und heftig gescholten wird. So liefert die Regie nach, was Wagner vergessen hat, ins Libretto zu schreiben. Wenn uns diese bestrafte Jugendliebelei allerdings die Frauenfeindlichkeit der Gralsgesellschaft erklären soll, ja dann – heilige Einfalt! – dann war Wagner weiß Gott der bessere Psychologe.

Erwähnenswert an diesem Abend bleibt eine, abgesehenen von der bedauernswerten Anja Kampe, erstklassige Sängerbesetzung. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt einen so dramatisch präsenten, ausdrucksvollen, farbenreichen Parsifal gehört habe wie jetzt den des 1971 in Österreich geborenen Andreas Schager. Dazu hat er alles, was so ein Heldentenor braucht: lupenreinen Fokus, klare Strahlkraft, virile Tiefe und einer sehr profilierte Artikulation. In der letzteren übertroffen wird er noch von René Papes überragendem Gurnemanz, der die erzählerische Rhetorik dieser Partie wunderbar ausformuliert und sie mit einem dunklen, sehr markanten Bass ausstattet. Wolfgang Koch bietet dazu, genau passend zum Rollenprofil, den interpretatorischen Kontrapunkt und entwickelt seinen Amfortas aus einem kantablen Leidenspathos, das zu Herzen geht. Tómas Tómassons Klingsor-Interpretation war durch das erwähnte Rollenprofil geprägt und beschränkt, das er mit seinem hellen, agilen Charakterbariton inszenierungsdienlich erfüllte.

Man hörte tolle Männerchöre und bezaubernde Gralsmädel (einstudiert von Martin Wright) und viel große Kompetenz in kleinen Rollen. Aber eine große „Parsifal“-Interpretation war für mich weder szenisch noch musikalisch zu erkennen. Und für weite Teile des in Buhs und Bravos wetteifernden Publikums offenbar auch nicht. Schade eigentlich.