Foto: Jenifer Lary in der Partie der Dinorah und der Chor in Görlitz. © Marlies Kross
Text:Joachim Lange, am 17. November 2019
Die Schlusspointe in Giacomo Meyerbeers Oper „Dinorah oder Die Wallfahrt nach Ploërmel“ ist selbst für dieses Genre recht speziell. All das, was zwischen programmatisch beredter Ouvertüre und dem ausgedehnten Finale passiert ist, wird da nämlich kurzerhand zum Traum erklärt. Allein sind die Protagonisten mit dieser Lösung nicht. Bei Kleist und seinem Prinzen von Homburg lief das 1821 auch schon so ähnlich. „Ein Traum, was sonst?“, so antwortet Kottwitz dem gerade erwachenden Prinzen auf seine entsprechende Frage. Damit kann man weiterleben. Mit der Wahrheit wäre das erheblich schwieriger. Aber was ist schon Wahrheit! Bei der 1859 komponierten und uraufgeführten „Dinorah“ ist es nicht viel anders. Es ist eine von zwei Opéra-comiques, die der 1791 in der Mark Brandenburg geborene und 1864 in Paris gestorbene Großmeister der Grand opéra eben auch beherrschte. Allerdings profitiert die nur gelegentlich von der kleinen Renaissance seiner großen historischen Grand opéras. Im entsprechenden Programmschwerpunkt der Deutschen Oper Berlin war „Dinorah“ – wenn auch nur konzertant – mit von der Partie.
Im stilistisch formvollendeten Gerhart-Hauptmann-Theater in Görlitz gehört ein Porträt von Meyerbeer in die Komponisten-Galerie an der Decke des Zuschauerraumes. Als das Haus 1851 seinen Betrieb aufnahm, war der deutsch-jüdische Franzose, dem Richard Wagner mit penetrant undankbarer Gehässigkeit zusetzte, in Europa so berühmt, dass er wie selbstverständlich in diesem Olymp landete. Heute wird das unversehens zu einer Mahnung, auch mal eines seiner Werke zu spielen. Da die großen Opern die Dimensionen des 500 Zuschauer fassenden Hauses und seine Ressourcen sprengen würde, ist „Dinorah“ geradezu perfekt. Entstehungszeitlich steht sie zwischen „Le prophète“ und der erst posthum uraufgeführten „L’Africaine“ im Werksverzeichnis. In der ambitionierten Neuproduktion des Theaters Görlitz-Zittau wird die deutsche Übersetzung des Librettos von Jules Barbier und Michel Carré durch Johann Christoph Grünbaum verwendet, der man die zeitliche Nähe zur Entstehungszeit überdeutlich anmerkt. Samt parodieähnlicher Nebenwirkungen. „Dunkel ruhen die Lose in des Schicksals Schoße“ und so ähnlich. Macht aber nichts. Die Musik touchiert auch hin und wieder die Wolfsschlucht. Und wer redet schon mit einer Ziege in konsistentem Französisch bzw. Deutsch.
Auf den Kontakt mit ihrer Ziege Bella konzentriert sich die Hirtin Dinorah. Ihr Bräutigam, der Hirt Hoël, hatte sie bei einem Unwetter, das während der Wallfahrt nach Ploërmel, die beide als Sahnehäubchen für ihre Hochzeit unternahmen, hereinbrach, verlassen. Er folgt den verführerischen Einflüsterungen des dunklen Zauberers Tonyk, der ihm einen Schatz verspricht, wenn er seine Braut ohne ein Wort verlässt. Sie flüchtet ihrerseits für ein geschlagenes Jahr in den Wahnsinn und irrt als Närrin durch die Welt. Mit Bella der Ziege. Für deren Darstellung haben es auch schon mal lebende Exemplare dieser Spezies zu Bühnenehren gebracht. In Görlitz hat man sich den dafür heute erforderlichen Stress mit dem Tierschutz gespart. Hier werden Dinorah und ihr Hoël (geschmeidig und sicher mit wohltimbriertem Bariton: Ji-Su Park) und dessen zeitweiliger Begleiter Corentin (lyrisch beredt: Thembi Nkosi), den er ohne Skrupel opfern würde, um in den Besitz des Goldschatzes zu kommen, von Schatten begleitet. Kein tierisches Meckern auf der Bühne, dafür passende Schattenrisse. Am Ende sorgen Unwetter und ein erneuter Schock dafür, dass Dinorah wieder aus ihrem Wahnsinnsexil erwacht, die Wallfahrer wieder zur Stelle sind und sich alle auf die Traumversion der Geschichte einigen. Der Schatz, den Hoël gewinnt, ist zwar nicht der ihm verheißene aus Gold, aber eben das Herz von Dinorah. Ende gut, alles gut.
Die Musik ist hinreißend verführerisch in ihrem Wechsel von einschmeichelnd aufflatternder Melodie, atmosphärischer Stimmungsmalerei und einer Ziegenglocke als eines der Leitmotive, das immer wieder erklingt. Alles mit der gehörigen Portion von Raffinesse, die dieser Komponist allemal liefert. Die Musiker der Neuen Lausitzer Philharmonie und ihre GMD Ewa Strusińska liefern mit ihren Mitteln einen Meyerbeer de luxe!
In „Dinorah“ kommt es darauf an, dass sich die Protagonisten und der Chor (so wie von Albert Seidl einstudiert) auf dieses Spiel zwischen Traum und Wirklichkeit einlassen. Vor allem braucht es eine vollkommen koloraturensichere Ziegenfreundin für die Titelpartie. Und da begeistert Ensemblemitglied Jenifer Lary (die 2020 nach Heidelberg wechseln wird) durchgehend – mit spielerisch leichten, lockeren Koloraturen und der entsprechenden Intensität in der Darstellung. Auch bei ihr wird die berühmte Schattenarie zu einem Bravourstück, das mit ausführlichem Szenenapplaus bedacht wurde! Sie feuert keins ihrer Kehlenkunststücke einfach nur von der Rampe ab, sondern fügt sie in die jeweilige Situation der Inszenierung von Geertje Boeden und den Raum, den das Ausstatterteam Olga von Wahl und Carl-Christian Andresen zwischen Traum und Wirklichkeit angesiedelt haben, ein. Atmosphärische Ergänzung sind die Videos von Aron Kitzig und die Schattenspieler Nami Miwa (als Bella), Harrison Claxton (als Schatten Hoëls ist er der Zauberer Tonyk) und Lorenzo Rispolano (als Schatten Corentins passenderweise als Kobold). Eindrucksvoll die erstarrte Schlammlawine, die die Bühne beherrscht und in der technische Versatzstücke aus modernen Haushalten einen dezenten Verweis von den historisch märchenhaften Kostümen hin zu unserer Gegenwart liefern. So wie das Verschwinden eines Bräutigams während der Hochzeit ja nicht nur mit dem Wirken von Übermächten erklärt werden kann, sondern auch als poetisches Bild von Bindungsangst…