Foto: Bigott, ignorant, gierig... Marilyn Bennett als monströse Großmutter und Kenneth Mattice als Strizzi Alfred in "Geschichten aus dem Wiener Wald" am Theater Hagen © Klaus Lefebvre
Text:Andreas Falentin, am 25. Juni 2017
2007 übernahm Norbert Hilchenbach das schon damals latent von Schließung bedrohte Theater Hagen. Mit ambitionierter, nie wagemutiger Spielplangestaltung und handwerklich soliden Inszenierungen gelang es ihm, das Haus sowohl überregional bekannter zu machen als auch die Zuschauerzahlen und Einnahmen deutlich zu steigern. Die Stadt dankte es ihm mit mehreren Etatkürzungen. So ist es kein Wunder, dass ausgerechnet „Don Quichotte“ den Titel eines Hilchenbachs zehnjährige Intendanz dokumentierenden Bildbandes ziert – und dass sich, im Gegensatz zu Journalisten, Weggefährten, Kollegen und Zuschauern, kein Repräsentant der Stadt darin äußert.
Zu seinem Ausstand als Intendant und Regisseur hat Norbert Hilchenbach sich ausgerechnet HK Grubers „Geschichten aus dem Wienerwald“ gewählt, basierend auf Ödön von Horvaths nachtschwarzer Entlarvung des Kleinbürgers an sich. Wenig überraschend münzt Hilchenbach das Stück nicht, was durchaus möglich und nachvollziehbar gewesen wäre, auf die Hagener Verhältnisse, tritt nicht nach mit den Mitteln der Satire. Als ‚Geschenk‘ bezeichnet er im Programmheft die Möglichkeit, sich noch einmal mit einem Autor zu befassen, der ihn sein ganzes Künstlerleben begleitet habe. Und tatsächlich bringt Norbert Hilchenbach das ungewöhnliche Stück in den sehr praktikablen und angenehm anzusehenden grauen Lückenwänden von Jan Bammes vor allem zu sich selbst, entblättert behutsam seine dramatische Substanz. Grubers „Geschichten aus dem Wienerwald“ sind eigentlich weder Oper noch Musiktheater, sondern Soundtrack, elaborierte Tonspur, musikalischer Verstärker eines Geschehens, das sich vor allem in der Sprache ereignet.
Bigott, ignorant, gierig und ichbezogen sind die Menschen. Sie behandeln einander wie Dinge, machen sich gegenseitig zum Objekt. Hilchenbachs Inszenierung flaniert staunend durch sie hindurch, an ihnen vorbei, denunziert die Figuren nie, tastet sie nicht an. Behutsam weist er den Charakteren individuelle Körpersprachen zu, was nicht alle Darsteller adäquat umzusetzen vermögen, was aber zu intensiven Charakterstudien führt wie bei der großartigen Kristine Larissa Funkhauser, einer wesentlichen künstlerischen Konstante von Hilchenbachs Intendanz. Die Mezzosopranistin zeichnet die von Torschlusspanik geschüttelte Traffikantin Valerie unerhört plastisch, zumal sie sich auch im Zwischenreich zwischen Sprechen und Singen sehr wohl zu fühlen scheint.
Und das spielt in HK Grubers Soundtrack eine große Rolle. Ihm geht es um das Wort, um (fast) nichts als das Wort. Seine 2014 in Bregenz uraufgeführte, weitgehend tonale Komposition will es einerseits aufschließen und zum Klingen bringen, andererseits durch komplexe Schichtungen dramatisch motivierter Stimmen unterhöhlen und bloßstellen. Die grauenvolle Stumpfheit der Figuren, die eigentlich unvorstellbaren Abgründe in ihnen, sollen so erlebbar werden. Wenn etwa Alfred, der klassische Strizzi, der Frau, der er ein Kind gemacht hat, in abgedroschenster Metaphorik erklärt, warum er sich seiner Verantwortung nicht zu stellen gedenkt, hört man aus dem Graben eine sehr hübsche, wehmütige Streichermelodie, die in unregelmäßigen Abständen von Percussion geradezu verprügelt wird. So führt das Orchester immer wieder ein Eigenleben. Der scheidende Generalmusikdirektor Florian Ludwig steuert dieses nahezu perfekt, gebietet mühelos über die vertrackte Rhythmik und die komplexen Proportionen dieser Musik, passt das Stück wunderbar in die bekannt schwierige, knallige Akustik des Hagener Opernhauses ein, hätte nur vielleicht, was die Dynamik angeht, wenige Dezibel weiter unten ansetzen können. Das Philharmonische Orchester spielt offenbar mit Freude und hörbar auf sehr hohem Niveau. Das zwölfköpfige Sängerensemble würde einem größeren Haus Ehre machen. Die Klarheit, mit der Marilyn Bennet die Großmutter als geradezu dämonisch berechnendes, fleischloses Monster zeichnet oder die Brillanz, mit der Jeanette Wernecke die mörderisch hohe Partie der von allen gequälten Marianne interpretiert, durchgängig textverständlich und ohne je die sehr individuelle Stimmcharakteristik zu opfern, findet man wahrlich nicht überall.
Natürlich wäre dem Stück an einigen Stellen, auch und gerade zum Ende hin, ein wenig – oder ein wenig mehr – satirische Schärfung gut bekommen. Sie war aber eben nicht gewollt. Norbert Hilchenbach beschließt seine Intendanz, wie er sie gelebt hat. Zugewandt. Integer. Konsequent. Lächelnd.