Regisseur Jens-Daniel Herzog hat keine Angst davor, die aktuelle Bedrohung durch die weltweiten Krisen-Gefühle schemenhaft aus der uralten Story aufsteigen zu sehen. Eine „lebenslustige Feiergesellschaft“, der mit dem Tod der Titelheldin schlagartig der federnde Boden unter den Füßen entzogen wird, sucht verwirrt nach Orientierung. Aus rasant abgespulter Videowelt (Videodesign: Stefan Bischoff; Ausstatter Mathis Neidhardt lässt vielsagende, gelegentlich redselige Bilder hinter den lapidar gegenwärtig kostümierten Figuren aufblenden) entsteht auf weitgehend leergeräumter Bühne auch graues, manchmal gar grauenvolles Erkennen. Die Regie, gestützt von bemerkenswert locker umgesetzten Bewegungsmustern für Individualisten mit Kollektiv-Drang aus dem Fundus des Choreografen Ramses Sigl, besteht auf dem tänzelnden Schritt für die Annäherung an die Gegenwart. Das passt gut. Man zoomt aus dem All auf die kleinere Einheit des Erdballs und stufenweise weiter zurück ans Tretboot ohne Seenot des frisch vermählten Brautpaars am idyllischen See. Alles auf Video hier, aber dann wieder seltsam aufdringliche Doppelungen, wenn riesige Vergrößerungen von Live-Ausschnitten direkt vom realen Bühnengeschehen abgefilmt zur elektronischen Monsterkulisse aufgetürmt werden. Das übermächtige Euridice-Hologramm ist absolut geisterbahntauglich, wankt als vergiftete Verheißung von der Rückkehr der Euridice dem Albtraum entgegen. Eine halbe Arie und ein Viertel Duett lang fixiert die Kamera auch mal den offenen Mund von Apollo, was dessen Artikulation nicht stört, aber eher dentistische Gedanken befördert. Die leere Bühne als geschickt genutztes Erfahrungsfeld der Sinne hat mehr Überzeugungskraft als vorlaut hereindrängende Anmerkungen.
Dabei gelingt Jens-Daniel Herzogs sicherer Personenregie der souveränste Zugriff, denn sie hält die ständig zwischen Solo- und Choreinsätzen hin und her wechselnden Personen in geradezu traumhafter Idealbalance. Die Sänger, pauschal alle, schaffen diese spartenübergreifende Slowmotion-Artistik scheinbar mühelos. Vokal hat das Glück ein paar verhuschte Schatten. Mozart-Tenor Martin Platz in der Titelrolle versenkt sich glanzvoll versonnen in die Schnörkel der Koloratur-Architektur, gerät aber beim gespannten Ausbruch in dramatische Vorstudien an Grenzen. Julia Grüter (Euridice) und die wie eine Hippie-Diva mit Gold im Haar kostümierte Andromahi Raptis (La Musica und Echo) stehen für die besondere Stärke des Nürnberger Frauen-Ensembles.
Joana Mallwitz, spätestens seit der Salzburger „Così“ vom Sommer auch international gebührend beachtet, nahm den Wechsel von Strauss zu Monteverdi – wenn schon, denn schon – offensiv. Zusammen mit Frank Löhr schuf sie eine Nürnberger „L’Orfeo“-Fassung, die sich von der Not nicht in Tugenden treiben lässt. Im ermatteten Streit um die Pflicht zu historischen Instrumenten oder die Freiheit im Umgang mit modernem Orchesterklang entscheidet sie sich zum entschiedenen Sowohl-Als-Auch. Ihre Fassung ruft den Brückenschlag zum Konzept aus, arbeitet mit akzentuierenden alten Instrumenten im Rahmen des nicht allzu übergriffigen Philharmoniker-Sounds, lässt also Quelle und Mündung gleichermaßen gelten. Nach kantigem Auftakt dominiert eher kuscheliger, die Stimmen selbstbewusst umkreisender Sound. Das mag nicht direkt zur Verleihung einer goldenen Harnoncourt-Medaille führen, was sie offensichtlich sowieso nicht anstrebte, aber es schafft magische Spannung bis hin zum wunderbaren Moment, in dem der Barockmusiker mit lockerer Hand zum temporären Swing-König ernannt wird. Die Tüftlerin Mallwitz, von ihren Musikern besonders geschätzt für nachvollziehbare Expeditionen ins Detail, belässt es nicht bei der Erforschung des Unüberlieferten (was sie „Monteverdis Betriebsgeheimnisse“ nennt), sie gibt ihren eigenen Erkenntnissen vom Pult aus deutlich befeuernde Live-Beglaubigung, was dem Zuschauer im Blick auf die Gesten auch Mallwitz-Betriebsgeheimnisse genießen lässt. Das Orchester hat sie auf den Graben und mehrere Seitenlogen verteilt. Koordinierungsprobleme macht das offenkundig überhaupt nicht, so wie die aus zwei Klangwelten vereinte und dabei diskret gekürzte Fassung aus Nahtstellen nie Stolperfallen werden lässt.
Am Ende, wo die Sache von Leben und Tod geklärt und Leidenschaft in Denkmalsformat umgegossen ist, hat das Opernvolk in dieser vorsichtig um Deutung ringenden Inszenierung am eben noch gefeierten konkreten Einzelfall vorbei schon das Selfie als Sockel aller Ewigkeit entdeckt. Die sortierten Premierengäste jubelten dem Zauber des Neubeginns zu – und es war nicht nur demonstrativ.