Foto: "Götterdämmerung" in Bayreuth. Julia Rutigliano (Wellgunde), Mirella Hagen (Woglinde), Lance Ryan (Siegfried) und Okka von der Damerau (Floßhilde) © Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath
Text:Wolf-Dieter Peter, am 1. August 2013
Der längste Buh-Sturm der neueren Bayreuther Festspielgeschichte endete mit einem Skandal. Als Frank Castorf vor den Vorhang trat, fegte ihn ein vehementer Buh-Sturm an. Er reagierte mit eitler vorgespielter, arroganter Geringschätzung, was das Buh steigerte. Castorf blieb daraufhin ostentativ vor dem Vorhang stehen und signalisierte: „Ich bleibe länger als ihr alle buhen könnt!“, obwohl ihn Dirigent Petrenko auf das hinter dem Vorhang wartende Festspielorchester hinwies. Nach mehreren Minuten und ungebrochenem Buh-Sturm zeigte Castorf dem auch ostentativ im Zuschauerraum bleibenden Publikum zweimal „den Vogel“ und musste nach weiteren Buh-Minuten von seinem Team mühsam von der Bühne gezogen werden. Da hat ein durch Subventionen und Steuergeld-Honorare blendend ausgestatteter, sich aber in „Weltekel“ suhlender Privilegierter wohl alle Maßstäbe verloren. Die Festspielleitung sollte da etwas zurechtrücken.
Zuvor hatte der dominierende Bühnenbildner Alexsandar Deniç auf der Drehbühne vier Schauplätze in einander verschachtelt: eine Voodoo-Kapelle wird von aufgeschickten Nornen-Schlampen, Hagen im Irokesen-Look und Alberich in Jackett und Unterhosen frequentiert; vor der Reichstagsfassade in Christo-Verhüllung wohnt Brünnhilde im verschönten Alu-Wohnwagen, den Rocker Siegfried wohl vom toten Mime übernommen hat; nach etlichen Drehs locken hier aber auch die Rheintöchter-Nutten im Mercedes-Kabrio, wobei sie den abermals hinzuerfundenen Kellner tot im Kofferraum verstauen; eine hypernaturalistische Berlin-Kreuzberger „Döner Box“ im Besitz der “Hells Angels“-Gibichungen ist Schauplatz zentraler „Action“ bis hin zu Hagens Morden mit einem als Samurai-Schwert getragenen Baseballschläger; zwar wird der Reichstag am Ende als New Yorker Börse enthüllt, doch eine Riesentreppe – ein „Panzerkreuzer Potemkin“-Filmzitat, in dem der wiedererstandene Kellner als Transvestit den berühmten Kinderwagen selbst hinunterschiebt und dabei Kartoffeln verliert – dient zu Brünnhildes Schlussgesang: sie gibt den Ring den Rheintöchtern zurück, die ihn in eine brennende Öltonne werfen; während Brünnhilde einfach emanzipiert davongeht, zeigt eine Videozuspielung, wie Hagen in einem Schlauchboot davontreibt.
Dieses aufwändige, oft für wechselnde Teile der Zuschauer schlecht einsehbare „Bühnenbildtheater“ Aleksandar Deniçs wurde aber zur „Kulisse“ degradiert durch das musikalische Drama. Münchens künftiger Generalmusikdirektor Kirill Petrenko kam als Bayreuth-Debütant nicht nur auf Anhieb mit der unorthodoxen Orchesteranordnung und Akustik des verdeckten Orchesters zurecht, vielmehr machte er Wagners singuläre Komposition zum Klangereignis: faszinierend bis in die Nebenstimmen durchhörbarer Gesamtklang; meisterhafte Übergänge; Feinzeichnung von Motiven, ihrer zitierenden Verflechtung und Abwandlung; durchweg sängerfreundliche Dynamik und Atem für weit gespannte Phrasen und dann auch das fulminante Auftrumpfen – die viermaligen Jubelstürme schienen ihm fast unangenehm, strahlend stand er am Ende nur inmitten des ganzen Festspielorchesters. Die Sängerpositionen Loge, Freia, Donner, Froh, einzelne Walküren, Waldvöglein, Gunter, Gutrune und speziell Hagen wären besser zu besetzen. Parallel zu seiner blendenden Bühnenerscheinung lieferte Lance Ryans Siegfried viele falsche Töne. Rheintöchter und Nornen boten als durchweg nuttige Schlampen abendfüllende Dekolletees und schöne Töne. Claudia Mahnke überzeugte als Fricka, Norne und Waltraute, Burkhard Ulrich als Mime. Catherine Fosters Brünnhilden-Heroine begann mädchenhaft schlank, hatte Schwächephasen und sang dann die liebende Frau mit schönen warmen Tönen. In Martin Winkler hat Bayreuth einen erstklassigen Alberich mit bösartigem Timbre, zu dem Wolfgang Koch als durchtrieben mieser Wotan-Wanderer ein beeindruckender Gegenspieler war. Für sie und im Zentrum Kirill Petrenko: uneingeschränkter Jubel.
Volksbühnen-Chef Frank Castorf hatte verkündet, dass er keinen Jahrhundert-Ring präsentieren wolle: „Mir genügt ein ‚Jahres-Ring’“. Die Ablehnung attestierte ihm aber eindeutig: es ist ein sehr dünner Jahres-„Ring“ geworden, dem nur die musikalische Seite Tiefe verlieh. Castorfs „Volksbühnen-Ästhetik“ wirft aber auch viel grundsätzlichere Fragen auf: ist das postdramatische Theater nicht auf dem Weg zu einer „Büchse der Pandora“ geworden, die „anything goes“ auf dafür nicht geschaffene Werke ergießt? In Vorahnung davon hat Castorf ja vertraglich unterschreiben müssen, zumindest nicht in die „Ring“-Musik einzugreifen. Dennoch stellt sich als Resümee ein, dass die Bayreuther Festspielen mit allen Neuinszenierungen der letzten Jahre – Herheims singuläre „Parsifal“-Neudeutung ausdrücklich ausgenommen – den Anspruch verloren haben, Maßstäbe oder Wegemarken der Wagner-Deutung zu setzen.