Auch wenn der Versuch der Bildung eines neuen Kanons ironisch gemeint ist, erschöpft sich der Abend vor allem in der Erinnerung an die Namen, die bereits eng mit der Gießener Schule oder der Postdramatik verbunden sind. Erinnert werden Stücke und Akteure, die für eine jüngere Generation fester Bestandteil der Performance- und Theatergeschichte der letzten Jahrzehnte – und somit auch kanonisch sind.
Die Liste lässt sich endlos fortführen und eigentlich ist zunächst nicht (nur) entscheidend, an wen erinnert wird, sondern wie: Gemeinsam wird der Essenz des Erlebten nachgespürt und versucht, diese unmittelbar im Moments des Entstehens als kollektives Erlebnis zu vergegenwärtigen. Das gelingt manchmal wie bei „Biography“, sodass man nah dran ist an diesem Gefühl, auch wenn man selbst nicht dabei war. In anderen Momenten nimmt man vor allem die kichernden Zuschauerinnen und Zuschauer im Publikum wahr, die wahrscheinlich Ende der 1990er Jahre und der Nullerjahre ebenfalls die zitierten Performances erlebt haben. Auch das Publikum wird zu einer Murmel-Phase mit der Sitznachbarin oder dem Sitznachbar über den einen, seine Vorstellung von Theater verändernden Moment aufgefordert. Der Abend könnte auch „Einführung in die Praxis von She She Pop“ heißen, denn er zeigt wie ein Experiment, das einer bestimmten Spielanordnung folgt, auf der Bühne aussehen kann. Nicht ein übergeordnetes Regiekonzept steht im Vordergrund, sondern der Prozess selbst.
„Kanon“ ist insofern die perfekte Jubiläumsfeier des Festivals „Alles ist Material. 20 Jahre ‚Postdramatisches Theater‘“ im HAU. Ein Klassentreffen, bei dem man zurückblicken und die Gegenwart für einen Moment ausblenden kann. Dabei sind die evozierten Fragen nach der Flüchtigkeit der Form und der damit verbundenen Schwierigkeit der nachträglichen Vermittlung durchaus spannend und aktuell. Jedenfalls macht der Abend neugierig auf einige vergangene Theatermomente. Schade nur, dass wir sie nie (wieder) erfahren werden.