Szene aus „Kanon” von She She Pop

Ein post-Erlebnis

She She Pop: Kanon

Theater:Hebbel am Ufer, Premiere:22.11.2019

Eine Frau steht auf der Bühne und kämmt sich die Haare, nein, sie reißt regelrecht an ihnen, streckt ihren Oberkörper verkrampft in Jesus-Pose gen Publikum, lässt das Messer schnell zwischen ihren einzelnen Fingern hin und her wandern. Während sie all das macht, erzählt sie chronologisch von Ereignissen aus ihrem Leben, die sie zu der Frau gemacht haben, die sie ist. Erkannt? Scheinbar ist das genau so passiert in „Biography“ von Marina Abramović 1993 auf der Bühne des TATs in Frankfurt am Main. In She She Pops neuer Arbeit „Kanon“ lässt Berit Stumpf die von ihr erinnerte Szene als erleuchtendes Moment – ohne das es das Performancekollektiv vielleicht nie gegeben hätte – auf der Bühne des HAU 2 nachspielen (in der Besetzung: Sebastian Bark, Lisa Lucassen und Berit Stumpf und ihren Gästen: Sean Patten, Daniel Belasco Rogers, Tatiana Saphir und Leicy Valenzuela).

Links und rechts hängen an Schnüren 30 Requisiten, die als Instrumente für das immer gleiche Spiel dienen: Nacheinander beschreibt jede Performerin und jeder Performer einen besonders prägenden Theatermoment, der dann als Reenactment zu vermitteln versucht wird. Über ihren Kleidern tragen sie ikonische Schürzen, Perfomancekünstlerinnen wie Valie Export oder Pipilotti Rist legen sich über die Körper (Kostüme: Lea Søvsø). Dadurch entstehen beim Innehalten in Posen und während des Tanzens witzige und teils absurde Bilder. Ganz nach dem Motto ‚Los wird man seine Idole nie‘ legen diese sich als Folien über die Bewegungen. Geehrt werden Wegbegleiterinnen und -begleiter der Postdramtik und Vordenkerinnen der Performancekunst: Pina Bausch, Jérôme Bel, Showcase Beat Le Mot oder Forced Entertainment.

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Auch wenn der Versuch der Bildung eines neuen Kanons ironisch gemeint ist, erschöpft sich der Abend vor allem in der Erinnerung an die Namen, die bereits eng mit der Gießener Schule oder der Postdramatik verbunden sind. Erinnert werden Stücke und Akteure, die für eine jüngere Generation fester Bestandteil der Performance- und Theatergeschichte der letzten Jahrzehnte – und somit auch kanonisch sind.

Die Liste lässt sich endlos fortführen und eigentlich ist zunächst nicht (nur) entscheidend, an wen erinnert wird, sondern wie: Gemeinsam wird der Essenz des Erlebten nachgespürt und versucht, diese unmittelbar im Moments des Entstehens als kollektives Erlebnis zu vergegenwärtigen. Das gelingt manchmal wie bei „Biography“, sodass man nah dran ist an diesem Gefühl, auch wenn man selbst nicht dabei war. In anderen Momenten nimmt man vor allem die kichernden Zuschauerinnen und Zuschauer im Publikum wahr, die wahrscheinlich Ende der 1990er Jahre und der Nullerjahre ebenfalls die zitierten Performances erlebt haben. Auch das Publikum wird zu einer Murmel-Phase mit der Sitznachbarin oder dem Sitznachbar über den einen, seine Vorstellung von Theater verändernden Moment aufgefordert. Der Abend könnte auch „Einführung in die Praxis von She She Pop“ heißen, denn er zeigt wie ein Experiment, das einer bestimmten Spielanordnung folgt, auf der Bühne aussehen kann. Nicht ein übergeordnetes Regiekonzept steht im Vordergrund, sondern der Prozess selbst.

„Kanon“ ist insofern die perfekte Jubiläumsfeier des Festivals „Alles ist Material. 20 Jahre ‚Postdramatisches Theater‘“ im HAU. Ein Klassentreffen, bei dem man zurückblicken und die Gegenwart für einen Moment ausblenden kann. Dabei sind die evozierten Fragen nach der Flüchtigkeit der Form und der damit verbundenen Schwierigkeit der nachträglichen Vermittlung durchaus spannend und aktuell. Jedenfalls macht der Abend neugierig auf einige vergangene Theatermomente. Schade nur, dass wir sie nie (wieder) erfahren werden.