Foto: Gerard Quinn als Celebrant mit dem Street-Chorus und den anderen Chören – Szene aus Tom Rysers Inszenierung am Theater Lübeck. © Olaf Malzahn
Text:Detlef Brandenburg, am 18. März 2017
Welch ein Jubel im Lübecker Opernhaus! Und das bei einem Werk, das man kaum je auf der Theaterbühne sieht – obwohl der Komponist prominent ist und er dieses Werk trotz des liturgischen Titels durchaus szenisch konzipiert hat. Die Rede ist von Leonard Bernsteins „Mass“, an die sich das Haus in der Hansestadt mit den vielen Kirchen herangetraut hat – ein Stadttheater, das finanziell zwar hart an der Prekariatsgrenze operiert, dabei aber durchaus erfolgreich und vor allem immer wieder auch risikofreudig ist.
Bernstein schrieb seine „Mass“ in einem Lebensstadium existenzieller Verunsicherung. Man kennt ihn ja als charismatischen Ekstatiker, einer, der sich für die Musik verbrennt, dabei aber immer auch Sendungsbewusstsein ausstrahlt. In den 1960er Jahren hatte er mit den Protagonisten des gesellschaftlichen Aufbruchs in den USA sympathisiert, mit Pop-Musikern, Hippie-Philosophen und Gesellschaftskritikern. Doch schon Kennedys Tod, fünf Jahre später dann die Ermordung Martin Luther Kings, der grausame Wahnsinn des Vietnam-Kriegs, der zynische Rassismus der Nixon-Präsidentschaft, schließlich der Watergate-Skandal: all das erschütterte Bernsteins gesellschaftsutopischen Optimismus nachhaltig und trieb ihn in eine tiefpessimistisch grundierte Opposition zum etablierten Amerika.
Aus diesem kritischen Pessimismus heraus hat Bernstein zwei Werke geschrieben, die beide in ihrer Weise sperrig sind und sich deshalb nie auf der Bühne etablieren konnten: Das Musical „1600 Pennsylvania Avenue“, an dem er von 1972 bis 1976 fast vier Jahre arbeitete, fokussiert sich auf die politische Szene Amerikas; es spielt im Weißen Haus und rechnet mit Amerikas bigottem Patriotismus und Rassismus ab. Die 1971 in Washington uraufgeführte „Mass“ dagegen ist eine Abrechnung mit falschen Glaubensgewissheiten, die in Amerikas Establishment hoch im Kurs standen, die aber durch die gesellschaftliche Realität Lügen gestraft wurden. In diesem keineswegs kohärent erzählten, eher postdramatisch gebrochenen „Theaterstück für Sänger, Spieler und Tänzer“ versucht ein „Celebrant“, eine römisch-katholische Messe aufzuführen, mit Kirchenchor, Kinderchor und mit einem Street Chorus, der die christlichen Glaubenssätze mit seinen höchst profanen Alltagserfahrungen konfrontiert, gegen die Riten der Messe anarchisch revoltiert und am Ende sogar die Glaubensgewissheit des Zelebranten unterwandert. Dieser stürzt in eine existenzielle Krise, schleudert eine Monstranz auf den Boden und bricht die Messe ab. Dass danach ein Knabensopran ein musikalisch geradezu kitschiges Finale der Lobpreisung Gottes („Lauda Lauda Laudé“) initiiert, so als sei das ganze Aufbegehren nur ein etwas überdrehter Klassenzimmerklamauk gewesen – das ist eines der Rätsel dieses Werkes, das eine religiöse Revolution anzettelt, um in ritueller Beschaulichkeit zu enden. Es wurde zur Einweihung des Kennedy Centers geschrieben – mag sein, dass die Sache da halt gut ausgehen musste. Aber ob Bernstein wirklich dran geglaubt hat?
Dass es zumindest musikalisch lohnt, dieses Werk aufzuführen, das hat das Lübecker Ensemble unter dem Dirigat von Andreas Wolf, seit der Spielzeit 2013/14 Erster Kapellmeister und Stellvertretender GMD am Theater Lübeck, eindrucksvoll bewiesen. Bernstein führt ganze Phalangen von Klängen und Musikern ins Feld des Glaubens: neben der Riesen-Baritonpartie des Zelebranten etliche kleinere Solopartien im Grenzbereich zwischen Oper, Soul und Musical, die drei Chöre, ein Orchester im Graben, etliche Instrumentalisten auf der Bühne und in den Proszeniumslogen, eine Band, Sampler, Orgel, quadrophonische Zuspielbänder… Wenn dieser Apparat so vital wie in Lübeck zu Werke geht, mit nicht immer perfekt, aber doch überwiegend gut organisierter Klangwucht, mit emphatisch engagierten Protagonisten, und wenn folglich Bernsteins zwischen sakralen, romantischen, jazzigen, rockigen und gospeligen Anklängen genial pulsierende Musik ihre Wirkung entfaltet – dann kann man sich dem Überwältigungscharakter des Werks schwer entziehen. Und dass die Oper Lübeck mit Gerard Quinn einen Bariton im Ensemble hat, der den Celebrant mit stilistischer Kompetenz und Ausstrahlung verkörpert, ist schon ein Coup. Es gibt also durchaus gute Gründe für die Begeisterung der Zuschauer.
Zu den weniger guten zählt die durchschlagend eindimensionale Inszenierung von Tom Ryser in der Ausstattung von Stefan Rieckhoff und der Choreographie von Lillian Stillwell. Die ist zwar handwerklich gekonnt: Die Protagnisten und die komplexen Massenszenen sind effektvoll in Szene gesetzt, das funktioniert prima. Aber wenn man die Tauglichkeit dieser „Mass“ für eine Bühneninszenierung auf Höhe der Zeit beglaubigen wollte, dann müsste man sie aufbrechen hin auf jene Themen, die Bernstein damals umgetrieben haben – und die, vor allem die Frage nach dem Glauben in einer politisch disparaten, ideologisch radikalisierten Welt, heute brennender denn je sind. Die Dramaturgin Katharina Kost-Tolmein legt den politischen Entstehungskontext im Programmheft auch eindrücklich dar. Aber das hat Ryser offenbar nicht gelesen. Oder es hat ihn nicht interessiert. Er lässt sich ein paar hübsch gotische Kirchenmotiv-Versatzstücke auf die Bühne bauen und spielt darin einen choreographisch veredelten Passionsspiel-Mummenschanz mit viel Aktionismus und wenig Weltbezug.
Gleich zu Anfang, wenn der Zelebrant seinen „Simple Song“ anstimmt, ballettieren vier spitzentanzende Gestalten herein, spärlich bekleidet, irgendwie versehrt und kalkbeschmutzt. Sie werden den ganzen Abend dekorativ begleiten, ohne dass restlos klar wird, was sie verkörpern sollen: Die bösen Geister der schmutzigen Sünde vielleicht? Oder im Gegenteil den durch eben die Sündigkeit der Welt versehrten heiligen Geist als Ballett-Quartett? Gewiss ist nur: Wenn die Geister auf Spitze tanzen, wird es gefährlich – vor allem für die Inszenierung. Wenig später tobt der Street Chorus wie die Skelette eines Fastnachts-Totentanzes durch die Zuschauertüren ins Parkett herein, was ein schöner Effekt ist. Aber damit ist dann auch der zentrale Gegensatz zwischen religiöser Glaubens- und profaner Alltagswelt perdu, weil ja auch der Totentanz ein religiöser Ritus ist. Dass die Straßenchoristen später, wenn sie ihre Skelett-Anzüge ablegen, Street-Kid-Klamotten wie aus der „West Side Story“ tragen, hilft der Gegenwartsrelevanz von Rysers Inszenierung auch nicht auf die Beine. Und wenn uns die Solisten und Choristen zur finalen Kommunion im Parkett aufsuchen und auf das Liebenswürdigste ansingen – dann trägt der religiöse Kitsch einen faden Sieg über das aktuelle Potential davon, das man in diesem Werk hätte entdecken können. So aber waren wir alle getröstet und glücklich, und der Jubel konnte unmittelbar in die fröhliche Premierenfeier übergehen. Tu felix Lubeca!