Foto: Szene mit Martin Schwartengräber, Tilman Meyn und Stephanie Schadeweg © Maik Reishaus
Text:Jens Fischer, am 20. Dezember 2015
Pierre ist sauer. Seiner Tochter hat die Freundin seines ältesten Freundes „die Vorzüge der Klitoris-Stimulation erklärt“. „Das hätte sie besser dir erklärt“, kontert Pierres Gattin Clotilde. Denn auch sie ist sauer, geradezu dauergenervt von der nur noch schluffig vor sich hindümpelnden Ehe. Diese Pointe erntet den lautesten Lacherfolg des Abschiedsdinners am Theater Osnabrück.
Wenn Pierre und sein Freund zum besseren gegenseitigen Verständnis ihre Rollen inklusive Klamotten tauschen und damit auch das, was früher Unterhose hieß, dann ziehen beide blank, spielen schamvoll mit der Angstlust der Zuschauer vor Nackigen auf der Bühne – und sorgen so für die höchsten Kiekser- und Gluckser-Ausschläge des Amüsierpegels.
In diesen Momenten funktioniert das Boulevardtheaterversprechen, dem Publikum die Verklemmungen und Verödungen des eigenen Lebens auf komische Art erträglich zu spiegeln. So dass herzlich böse darüber gelacht werden kann, wenn wohlsituierte Schlaubürger in den Komfortzonen ihrer aufgeräumten Designerwohnzimmer mal so richtig schäbig in Fahrt kommen. Genau so haben Matthieu Delaporte und Alexandre de la Patellière mit „Der Vorname“ einen Theater-Blockbuster kreiert, der auch in Deutschland seit drei Jahren landauf, landab zu sehen ist – und in Osnabrück annähernd 50 Mal vor vollem Haus gezeigt wurde.
„Das Abschiedsdinner“ ist als Fortsetzung angekündigt worden. Und viele hätten sicherlich gern gesehen, wie es sich weiterleben lässt, wenn bei einem Essen mit Freunden mal jeder mit jedem abgerechnet hat, so dass die Beziehungen unumkehrbar beschädigt sind. Das neue Werk schließt aber am finalen Zerwürfnis nicht an, fängt vielmehr ganz von vorn an. Pierre ist wieder dabei, der besserwisserische Literaturprofessor aus „Der Vorname“ mutierte zu einem etwas verdrucksten Verleger. Seine im Hausfrauenfrust grämlich gewordene Elisabeth-Gattin wurde durch die Karrierefrau Clotilde (Stephanie Schadeweg) ersetzt, eine spöttische Bestimmerin, die Pierres Kastrationsängste befeuert. Was dieser sich mit folgendem Vergleich schön denkt: „Nur unter Hitler wird man zu Stauffenberg.“ Clotilde ist in Henning Bocks schlichter Kammerspielregie nur einmal richtig erotisiert von ihrer schlafferen Hälfte – als Pierre übermütig loshitlernd seinen Kumpel Antoine aus dem Haus ekelt.
Dieser ist als selbstverliebter, erfolgloser Sprachforscher das Nachfolgemodell des selbstverliebten, erfolgreichen Immobilienmaklers des vorherigen Werks. Hatte der eine schwangere Braut aus der Modebranche, ist Antoine mit der anfangs erwähnten Klitorisfachfrau zusammen, die als Happening-Aktivistin nackt durch die Straßen künstlert, nicht schwanger werden, aber einen kleinen Afrikaner adoptieren will. Auf die Bühne schafft sie es aber nicht. Also wird Konversationskomödie zu dritt gefeiert.
Das ist immer noch einer zu viel? Jedenfalls erklärt Pierre seiner Frau: „Wenn du die Abende abziehst, die du arbeitest, dann Dienstreisen, Familienfeiern, Hochzeiten und Beerdigungen. Dazu kommen Taufen, Bar Mitzwas, Elternabende, Eigentümerversammlungen … weißt du wie viele Abende im Jahr für uns bleiben?“ 24 hat er errechnet. Zu wenig. Also Kalender aufräumen, Freundeskreis ausmisten. „Wenn ein Baum nachwachsen soll, musst du die toten Äste wegschneiden“ – die Menschen, mit denen nur aus Gewohnheit noch höflich kommuniziert wird. Es gilt Platz zu machen für neue Freunde, „mit denen man wieder richtig gute Gespräche hat, wie am Anfang einer Liebesgeschichte.“ Pierre und Clotilde einigen sich auf Antoine: Der nerve am meisten, müsse als erster weg. „Tschüss, das wars“ zu sagen, verhindert der feine bürgerliche Umgangston – gesprochen wird lieber durch die Blume eines letzten edlen Abendessens. Als formvollendete Verkleidung des eigenen Zynismus.
Pierre öffnet einen 1967er Chateau Pétrus. „Teuer?“ „Der Preis eines Kleinwagens.“ Martin Schwartengräber kommt herein und zeigt als Antoine gleich überdeutlich, warum dieser peinvoll laut loswiehernde Zappelkasper verabschiedet werden soll. Schnell schaukelt sich die Situation wie in „Der Vorname“ hoch: Ressentiments, Vorurteile, unterdrückte Konflikte werden ausgesprochen, Persönlichkeitsmacken angeprangert, alte Rechnungen beglichen, Wunden aufgerissen. Fronten und Koalitionen wechseln dabei kurzfristig. Aber die Freundschaftstrümmer werden letztendlich auch wieder gekittet. Wohl zuungunsten der Ehe. Die Abrechnung scheint hier ein reinigendes Gewitter, damit zumindest die beiden Männer bemerken, was ihnen wirklich wichtig ist. Die Moral von der Geschichte ist bei de la Patellière/Delaporte immer auch ernst gemeintes Wohlfühlangebot für den Heimweg.
„Das Abschiedsdinner“ schwächelt allerdings gegenüber dem Vorgänger. Die Pointendichte ist geringer, die Satire weniger scharf, Fallhöhen sind niedriger und die Enthüllungen verweben nicht alle Figuren miteinander. Gerade Clotilde bleibt außen vor im Kampf der Jugendfreunde. Weiteres Problem der Produktion: Was als deutschsprachige Erstaufführung geplant war, musste aufgrund einer Erkrankung im Ensemble verschoben werden, so dass in Osnabrück (nach Karlsruhe und Bern) nun die deutschsprachige Drittaufführung zu erleben ist. Tilman Meyn eignete sich in nur einer Probenwoche die Hauptrolle an. Dafür ist der Abend höchst beachtlich. In einer weiteren Woche Probenzeit hätte aber noch am Zusammenspiel und Timing gearbeitet werden können, wären Gags mit Esprit poliert, Aspekte der Figuren ausgearbeitet worden. So ist festzuhalten: Eine Boulevardkomödie, deren Premiere sich so bemüht grellkomisch über fast zwei Stunden dahinschleppt wie jetzt am Theater Osnabrück, ist einfach noch keine. Eher eine Voraufführung.