Foto: Samuel Barbers "Vanessa" am Theater Hagen. Richard Furman (Anatol), Katrina Sheppeard (Vanessa), Chor © Klaus Lefebvre
Text:Marieluise Jeitschko, am 9. März 2015
Die Geschichte mutet wie eine dieser bitter-melancholischen Tschechow-„Komödien“ an: die schöne, wohlhabende Vanessa sitzt am Fenster ihres Landhauses und wartet auf Anatol, der sie vor über 20 Jahren verließ. Das Schneetreiben und die Eiseskälte wollen gar kein Ende nehmen… Mit Vanessa warten die kränkelnde Baronin, ihre Mutter, und Erika, eine junge Nichte (oder etwa Vanessas „Erinnerung“ an leidenschaftliche Stunden mit Anatol?). Endlich kündigt Anatol seinen Besuch an. Vanessa lässt in einer betörend schönen Arie ihrer Vorfreude freien Lauf. Zu früh; denn der Ankommende ist der Sohn des inzwischen verstorbenen Geliebten. Der mittellose Tunichtgut tut’s gleich dem schmierigen Arzt nach, der bei seinen Visiten Vanessa und Erika ungeniert begrabscht. Anatol macht Vanessa schöne Augen, schwängert ganz nebenbei schon in der ersten Nacht Erika und macht sich nach deren Selbstmordversuch im Eis mit der ihm hastig angetrauten Vanessa aus dem Staub. Zurück bleiben die wissende, zynische Baronin und die auf ihre große Liebe wartende Erika…
Angesiedelt ist „Vanessa“ tatsächlich irgendwo im frostigen Norden Europas. Kein Geringerer als Gian Carlo Menotti verfasste das Libretto. Dieses erste Bühnenwerk des Amerikaners, 1958 an der New Yorker Met uraufgeführt, sollte – wenn auch musikalisch nicht unumstritten – sein erfolgreichstes bleiben. Dem Pulitzer-Preis und einem Auftrag der Met für „Caesar und Cleopatra“ folgten weltweit immer wieder Neueinstudierungen, zuletzt in Gießen und Frankfurt. Nun wagte sich das Theater Hagen an das „Kammerspiel“ für fünf Solisten, ein paar Statisten und Chor, der in Roman Hovenbitzers Regie zumeist mit sakral anmutenden Litaneien und düsteren Gesängen aus dem Off tönt. Im makabren letzten Akt tritt er mit Wolfsmasken und festlich gekleidet erst zur Suche Erikas, dann zur Hochzeit auf. Was für ein Fest vor Sonnenuntergang (so singen sie)! Das ist wohl als Reverenz an die „Seven Gothic Tales“ von Karin Blixen gemeint, die Barber vor der Entstehung der Oper mit Begeisterung gelesen hatte. Diese polternden Szenen geben der intimen, inneren Tragödie eine mysteriöse, makabre und auch unnötig konfuse Note. Da ist plötzlich der „Rosenkavalier“-Schluss in der Vorstadtkneipe nicht fern. Sogar der Kanon der fünf Protagonisten erinnert an das Final-Terzett. Überhaupt kommt Barber hier immer wieder wie der amerikanische Strauss daher. Den Vorwurf des „Altbackenen“ früherer Kritiker aber möchte man, über 50 Jahre nach der Uraufführung, nicht mehr gelten lassen. Barbers Spätromantik ist durchaus mit Dissonanzen, modernen Klangfarben und neutönenden Ansätzen durchsetzt, aber eingängig genug für ein heutiges Publikum. Nur klingt vieles aus dem Orchestergraben, wo Generalmusikdirektor Florian Ludwig waltet, allzu schrill, derb und laut. Zu selten kommen die leisen, lyrischen Passagen zur Geltung, für die Barber ja auch bekannt ist.
Vorzüglich sind allerdings die Solopartien besetzt. Die dramatische Sopranistin Katrina Sheppeard gibt als Vanessa – hier in Erinnerungen schwelgende, alternde Hollywooddiva – eine ideale Figur ab. Gestylt als platin-gelockte Grande Dame ganz im Stil der Dietrich wirkt sie auch in den historischen Filmaufnahmen mit Lover Anatol authentisch. Das starke Tremolo der sehr sicher sitzenden, warmen Stimme der Australierin setzte einen nicht einmal unpassenden Akzent. Gehässig auflachend die schweigsame Baronin, Inquisitor oder wissende Erda der undurchschaubaren Familienverhältnisse: In einer grandiosen Studie überzeugt Gudrun Pelker vom Musiktheater im Revier, eingesprungen für die erkrankte Marilyn Bennett. Ähnlich intensiv, stimmlich mit gewohnt variablem, kultivierten Mezzo Kristine Larissa Funkhauser: als junges Double Vanessas lebt Erika in diesem unwirtlichen Haushalt – zart und scheu anfangs, gereift und gebrochen nach der „Rettung“ aus dem Eis. Ihre Verzweiflung bei der Flucht in den eiskalten Freitod spiegeln verschwommene, zitternde Stummfilmszenen – eine der faszinierendsten Szenen! Der junge Amerikaner Richard Furman (Anatol) entzückt von Beginn an mit strahlendem Tenor. Der Finne Ilkka Vihavainen überdeckt die unsympathischen Seiten des Arztes mit wunderbar sonorem Bass.
Roman Hovenbitzer, in Hagen seit langem gern gesehener Gast, setzt ein bisschen zu sehr auf Aktion. Manch drastische Akzente in der Personencharakterisierung könnten weniger dick aufgetragen sein, die Filmausschnitte und Projektionen (Video: Volker Köster) – vor allem gegen Ende – reduziert werden. Dass hier Theater gespielt wird, signalisiert die Ausstattung von Jan Bammes: Der puppenstubenartige Spielraum ist mit einem dicken Kranz aus Scherben bekränzt – zerschlagene Spiegel, weil Vanessa ihr Älterwerden nicht ansehen wollte? Oder zersplitterte Eisplatten in diesem scheinbar immerwährenden Winter? Ein Vorhang an der Rückwand deutet die Bühne an und verbirgt die Leinwand, auf der Vanessa ihr Filmleben Revue passieren lässt.
Diese neue Folge der ambitionierten Hagener Reihe „Amerikanische Oper“ ist durchaus sehenswert.