Erste Verleihung des Europäischen Dramatiker:innepreises
Mit gutem Grund: Denn seit seinem Einstand mit Mouawads multikulturellem Familienstück „Vögel“ im November 2018 pflegt der Stuttgarter Intendant den Kontakt zu dem vielseitigen Künstler. Und nun erhielt Mouawad auch noch den vom baden-württembergischen Kunstministerium gestifteten Europäischen Dramatiker:innenpreis, dotiert mit unglaublichen 75.000 Euro. Tusch und Gratulation! Seit gut zehn Jahren hat Kosminski für diese Auszeichnung, die deutlich höher dotiert ist als der angesehene Büchner-Preis, gekämpft. Am Sonntag konnte sie erstmals vergeben werden. Autorinnen und Autoren soll damit ermöglicht werden, über längere Zeit an einem neuen Projekt zu arbeiten. Künftig wird der Preis alle zwei Jahre von einer hochrangig besetzten Jury vergeben.
Flankiert wird die Auszeichnung von einem Nachwuchspreis, der mit 25.000 Euro ebenfalls üppig dotiert ist und von der Heidelberger SRH Holding gestiftet wurde. In diesem Jahr geht er an die 1998 in London geborene Autorin und Schauspielerin Jasmin Lee-Jones, die mit ihrem Erstlingswerk „Sieben Methoden, um Kylie Jenner zu töten“ schon viele Meriten sammeln konnte.
Starkes Solo
Doch der ganz große Bahnhof gehörte am Wochenende (in Sichtweite der Mega-Baustelle „Stuttgart 21“) Wajdi Mouwad. Der Autor und Regisseur spielt den traumverlorenen und von äußeren Zwängen bedrängten Doktoranden voller Intensität. Allein in seiner kargen Studentenbude trotzt er den Fährnissen seiner libanesischen Familienbande und den Herausforderungen des Wissenschaftsbetriebs. Der richtige Schluss für seine 1500-Seiten-Dissertation über die „Soziologie des Imaginären“ in Lepages Theaterabenden will dem 30-Jährigen noch nicht einfallen. Da der Doktorvater drängelt, muss der Meister besucht und interviewt werden. Pech nur, dass der viel gefragte Theater-Guru Lepage gerade in St. Petersburg an einem Abend über Rembrandt einstudiert.
Oder ist er doch schon nach San Francisco aufgebrochen? Der Doktorand muss mir nichts, dir nichts ein Flugticket und ein Visum beschaffen, mit der Technik eines Passbild-Automaten kämpfen und dann auch noch den Besuch beim beleidigten Vater absagen. Krisen über Krisen. Die Stimmen des Doktorvaters, des tatsächlichen Vaters und der genervten Schwester kommen aus dem Off des Telefons. Sogar Lepage Höchstselbst äußert sich als Geisterstimme. Halluzinatorische Schatten- und Videobilder gesellen sich dazu. Der Doktorand setzt sich dabei seiner ureigenen „Soziologie des Imaginären“ aus. Mehr noch: Wegen eines Unfalls im Passbild-Automaten befindet er sich in Wirklichkeit im Koma. Die Stimmen aus dem Off sind reine Einbildung – und Theaterzauber pur. Daraus resultiert die Quintessenz der Doktorarbeit und des Bühnensolos, das per Publikumsapplaus mit „summa cum laude“ benotet wird.
Das rauschhafte Finale ist eine Orgie des Action- und Bodypaintings mit viel verspritzter Farbe. Damit beschwört Mouawad den arabisch-französisch-kanadisch geprägten Griff nach den Sternschnuppen seiner Kindheit und seiner weit zurückreichenden Kulturtradition mit sich überlagernden Sprach-, Farb- und Kulturschichten. So bunt geht’s rund in dieser Versuchsanordnung über das Imaginäre.