Foto: Tatjana (Dušica Bijelić) inmitten des Opernchores, den Georg Zlabinger als zudringliches, repressives Kollektiv zeigt. © Lena Kern
Text:Detlef Brandenburg, am 16. Januar 2023
Lyrische Szenen in drei Akten hat Peter I. Tschaikowsky sein 1879 uraufgeführtes, heute mit Abstand meistgespieltes Bühnenwerk „Eugen Onegin“ untertitelt: eine merkwürdig uneindeutige Gattungsspezifikation für ein Stück, das das Publikum heute ganz selbstverständlich als Oper zu bezeichnen gewohnt ist. Um das zu verstehen, muss man wissen, woher das Werk kommt und wovon es sich abgrenzt. Tschaikowskys Vorlage war ihrerseits eine heute völlig aus der Mode gekommene Mischform: ein 1833 erschienener, umfangreicher Versroman von Alexander S. Puschkin, aus dem Tschaikowsky in Zusammenarbeit mit seinem Librettisten Konstantin S. Schilowsky drei Episoden entnahm, in denen sich das Schicksal von drei Figuren des Romans vollendet: das der Gutsbesitzerstochter Tatjana, die unglücklich in den dandyhaft seinen Weltekel zelebrierenden Landedelmann Eugen Onegin verliebt ist; des in seiner Freundschaft zu Onegin tödlich scheiternden adeligen Möchtegern-Poeten Lenski; und schließlich Onegins Zusammenbruch, der seine Gegenliebe zur inzwischen verheirateten Tatjana zu spät entdeckt. Aus diesem Rückgriff auf die Vorlage resultiert eine lakonische und damit sehr moderne, episodisch zerrissene Musiktheater-Dramaturgie.
Der Chor als vierte Hauptfigur
Damit wandte sich Tschaikowsky explizit ab vom Pomp der traditionellen Oper mit ihren „äthiopischen Prinzessinnen und ihren Pharaonen“, wie er einmal – mit den besten Empfehlungen an den Kollegen Verdi – schrieb. Statt um äußerliche Effekte mit „Gift, Mord, Dolch und Intrige“ geht es ihm um das Seelenleben seiner Figuren, um ihre psychischen Dramen und deren soziale Verortung im Milieu des russischen Landadels. Genau hier setzt der noch recht junge, 1993 in Wien geborene Regisseur Georg Zlabinger an, der Tschaikowskys Lyrische Szenen nun am Theater Bielefeld inszeniert hat. Von seinem Bruder Martin hat er sich eine Drehbühnen-Architektur mit kahlen, sandgrauen Wänden bauen lassen, die als Spielraum wunderbar funktioniert, sonst aber wenig bietet, was vom Seelenleben der Figuren ablenkt. Auch Theresa Wilsons Kostüme meiden den Opernpomp: der Chor eine graue Masse, die drei Protagonisten in zeitloser Casual Couture von meist gedeckter Farbigkeit.
“… dem bricht sie das Herz entzwei“
Zlabinger konzentriert sich auf seine detaillierte Personenführung, die den psychischen Dramen unter der uniformen gesellschaftlichen Fassade detailliert nachspürt. In der körperlichen Haltung der Figuren, kleinen Gesten, manchmal überraschenden Interaktionen erleben wir eine Sprache der Seele, die Bände spricht: von Tatjanas backfischhaft überspannter Verliebtheit, Lenskis aufgesetzt egozentrischem Poetenhabitus, Onegins eitel zynischem Weltschmerzgehabe. Und von der militanten Biederkeit dieser Gesellschaft – das Kollektiv, der Chor, spielt als vierte Hauptfigur ständig mit, neugierig, aufdringlich, spionierend, drangsalierend. Und Zlabinger macht die (auch im Libretto klar formulierte) Alltäglichkeit der persönlichen Dramen klar, indem er zwei Mal – in der Einleitung zum ersten Akt und im Walzer-Entre’acte zum zweiten – eine stumme Szene mit Tatjana, Onegin und Lenkis zeigt, die die Handlung vorwegnimmt. Man denkt unwillkürlich an Heinrich Heines Gedicht „Ein Jüngling liebt Mädchen“: „…Es ist eine alte Geschichte, / Doch bleibt sie immer neu; / Und wem sie jüngst passieret, /Dem bricht sie das Herz entzwei.“
Die detaillierte Genauigkeit von Zlabingers coolem Psychodrama fasziniert und fesselt. Leider kommt sich der Regisseur aber mit ein paar aufgesetzten Ideen selbst in die Quere. Statt des Duells sehen wir hier Lenskis Selbstmord mit der Duellpistole. Das bringt nichts, denn auch für diesen Suizid trüge ja Onegin zumindest eine große Mitverantwortung. Dass der tote Lenski fortan als Geist durch die Inszenierung spukt, bleibt ein überflüssiger Schauer-Effekt der alten Oper, weil man längst kapiert hat, dass sein Tod für die beiden anderen ein existenzielles Menetekel war. Und dass Onegin zum Duell einen unsichtbaren Sekundanten mitbringt, erstaunt ohne weiteren Erkenntniswert. Die konsequente Verweigerung allen sozialen Kolorits aber schafft ein grundsätzliches semantisches Manko: So konsequent sie Zlabingers dramatischer Introspektion auch entgegenkommen mag, so entrückt sie doch die Gesellschaft, die mit ihrer obsessiven Biederkeit erst die Basis für das Seelenleiden der Helden schafft, ins Ortlose. Die anklagende Opposition von leidend aufbegehrendem Helden und repressivem Kollektiv wird zu leeren Schablone, oft gesehen, hier aber nur behauptet und nicht sozial beglaubigt.
Was diesen Abend dagegen wirklich stark macht, ist, dass der Dirigent Gregor Rot Zlabingers szenischen Ansatz musikalisch energisch unterstützt. Der Tschaikowsky-Klang des offenbar recht schlank besetzten Orchesters ist alles andere als duftig oder beschwingt, dafür aber konturenklar, trennscharf in den Farben, zupackend in der rhythmischen Akzentuierung; und die konventionelle Rigorosität des Kollektivs spiegelt sich in den geradezu aggressiv auftrumpfenden Chören: ein unsentimental analytisches Klangbild für eine kühl analysierende Inszenierung – wobei dem analysierenden Hörer auch ein paar Wackeleien und Stolpereien in den Orchesterstimmen und in der Koordination zwischen Bühne und Graben nicht verborgen bleiben.
Musik und Szene auf Parallelkurs
Beeindruckend ist die Qualität der Sänger. Alle drei Hauptpartien waren Debüts. Die in Bosnien und Herzegowina geborene, seit 2019 am Theater Bielefeld engagierte Sopranistin Dušica Bijelić singt eine sehr lyrische Tatjana mit zarter Stimme, die aber in den großen Aufschwüngen durchaus trägt und aus der so intensiven wie subtilen seelisch-dramatischen Gestaltung lebt – ihre Briefszene war ein Höhepunkt dieser Premiere. Aber ein bisschen mehr dramatische Impulsivität, auch unangestrengte Leuchtkraft hätte sie doch gebraucht. Der 2022 zum Bielefelder Ensemble gekommene Amerikaner Todd Boyce hat einen edeldunkel timbrierten Bariton, den er mit Ausdruckskraft, Geschmeidigkeit und manchmal mit ein bisschen viel Portamento-Gleitmittel führt. Andrei Skliarenko, geboren in Russland und ebenfalls seit 2022 in Bielefeld, singt den Lenski sehr idiomatisch, mit sicher sitzendem, stabilem, aber durchaus differenziert geführtem Tenor. Aus dem übrigen, durchweg guten Ensemble ragen Marta Wryk als vital auftrumpfende Olga und Moon Soo Park als etwas herber, aber zu Herzen gehend ausdrucksvoller Gremin heraus.
Dieser Abend ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür, wie stark Musiktheater sein kann, wenn die musikalische und die szenische Gestaltung auf einen gemeinsamen Fluchtpunkt zielen – und wie bedauerlich es ist, dass dieser gemeinsame Fluchtpunkt oft gar nicht erst gesucht wird.