Foto: Marita, der Traum von Freiheit und Geborgenheit und das Ensemble: Shari Asha Crossan und Nina Karimy (oben v.l.), Susanne Burkhard und Elisabeth Hoppe (im Schiff v.l.) © Katrin Ribbe/Theater Oberhausen
Text:Andreas Falentin, am 12. Oktober 2019
Das Pfund, mit dem diese ungewöhnliche Uraufführung wuchert, ist seine Story. Etwas, was im heutigen Theater eher selten ist. „Alles ist wahr“ ist ein klassisches Biopic. Sein Gegenstand ist Marita Lorenz: in Bremen geboren, als Kind ins KZ gekommen, 1945 befreit, nach USA emigriert, Mutter Ausdruckstänzerin und Geheimagentin, Vater Kapitän auf hoher See, Maria oft mit ihm um die Welt unterwegs, so Bekanntschaft mit Fidel Castro, große Liebe, Partnerin und Beraterin. Sie verliert das gemeinsame Kind vor der Geburt unter bis heute nicht eindeutig geklärten Umständen. Der amerikanische Geheimdienst bringt sie außer Landes, versucht, sie zum Mord an Castro abzurichten, den sie nicht begehen kann, als sich die Gelegenheit bietet. Die Geheimdienste versklaven sie. Erst im Alter ist sie entkommen. A story that’s never been told. At least not on stage.
Und unter merkwürdigen Umständen. Wenige Monate vor ihrem Tod im Sommer diesen Jahres siedelte sich die reale Marita Lorenz in Oberhausen an, bei ihrem Sohn. Das Theater ergriff die Gelegenheit und beauftragte den Autor Dominik Busch mit einem Stück über sie. Er sammelte Quellenmaterial, unterhielt sich dreimal intensiv mit der 80-jährigen Dame und ihrem Sohn, erntete viel Infomatives, aber noch mehr Widersprüchliches, widerstreitende, sich eigentlich aufhebende Aussagen und Erzählungen. Was daraus machen?
Busch und die Regisseurin Babett Grube teilen das Geschehen in drei Teile. Zu Beginn werden vier Frauen mit olivgrünen Oberteilen aus dem Bühnenhimmel in Marie Gimpels Bühnenlandschaft abgelassen. Vier sich selbst lächelnd ironisierende Kampfmaschinen, vier sympathische, ungefährliche Lara Crofts. Sie versammeln sich an der Rampe und führen süffisant in das Thema und die Problematik seiner Erforschung ein. Dann referiert Susanne Burkhard, schlank und widerständig, in einem großen Monolog Maritas Kindheit und Jugend bis zur Begegnung mit Castro. Sie macht das puristisch, bewegt sich kaum, ist dabei sehr präzise in Gestik und Sprache. Das Spiel beginnt.
Jeder ist, alle sind mal Marita. Die kleine rote Pappinsel dreht sich, ein großes Schiff aus Projektionsflächen und Plakaten wird zusammengebaut und über die Bühne bewegt. Die Bilderrahmen an der Hinterseite sind mal leer, mal gefüllt mit Fidel, Marita und ihrem Umfeld. Die ungeheure Geschichte wird im Zusammenspiel erzählt, je indirekter, je packender. Großartig, abstoßend, intensiv die Szene, in der Marita gezwungen wird, schießen zu lernen, bewegend, wenn Nina Karimy, mit unwiderstehlich breitem Lachen und wuchtig zentrierter Energie, davon erzählt, wie sich die für Castro vorgesehenen Giftpillen in ihrer Cremedose aufgelöst haben. Irgendwann kommt dieses Leben zur Ruhe, löst sich fast auf in der Frage, was man mit seiner Frisur macht. Das Alter hält Einzug.
Und das ist ein Höhepunkt. Mit drei Seniorinnen und fünf Senioren, die alle sehr gut zu Fuß sind, wie der Schlussapplaus zeigt, inszeniert Babett Grube so etwas wie einen Tanzmarsch der Gehbehinderungen. Die Statisten strömen mit Gehhilfen, Rollatoren und Rollstühlen auf die Bühne, fluten sie geradezu mit ihrer Lebensfreude und lassen die vier Maritas zurück, die wunderliches Zeug brabbeln und kurz vor Schluss kleine Widerhaken und Fragezeichen in das Gesehene schlagen. Dann geht plötzlich das Licht aus.
Wie gesagt: eine Geschichte, die es wert ist, erzählt zu werden. Zumal, wenn man es so tut, wie es Babett Grube über weite Strecken gelingt. Großartig, die gewaltbeherrschte Männerwelt der Geheimdienste wie alles andere von vier Frauen spielen zu lassen, die zudem sehr unterschiedlich sind, neben Burkhard und Karimy die sehr große, wunderbar leise Elisabeth Hoppe und die frisch, straight und trotzdem elegant rüberkommende Shari Asha Crosson. Dominik Buschs Sprache ist dezidiert künstlich, nie dokumentarisch oder gar umgangssprachlich. Grube übersetzt seine Bilder und seine Dramaturgie in theatrale Prozesse, die Distanz zum Geschehen erarbeiten und gerade darum plastisch und offen für die Emotionen des Publikums erzählen. Die Bühne von Marie Gimpel, die darauf fokussiert dem Spiel Raum und Rahmen zu geben, die stringenten Kostüme von Hsin-Hwuei Tseng, die Live-Musik von Martin Engelbach sind passende, eigenständig kreative Unterstützung dafür.
In wenigen Momenten fällt dieser Abend kurz in sich zusammen, stiehlt sich konventionelles Rollenspiel, traditioneller „Seelenton“ hinein, findet illusionistische Emotionalisierung statt. Aber die werden schnell wieder abgelöst von lebendiger, spielerischer Interaktion, die dem Text von Dominik Busch und dem Schicksal von Marita Lorenz gerecht wird.
Man möchte dem Text gerne wieder begegnen.