Foto: Szene aus der "Publikumsbeschimpfung" am Theater an der Rott in Eggenfelden © Sebastian Hoffmann
Text:Tobias Hell, am 24. April 2023
Skandale – egal, ob aus mangelnder Kooperation des Publikums oder bewusst darauf angelegter Provokation – gehören von jeher zum Theater dazu. Und vieles, was einst die Gemüter erhitzte, ist mittlerweile längst zum allseits akzeptierten Klassiker geworden. Mit Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung“ stellt das Theater an der Rott derzeit einen solchen Stein des Anstoßes aus vergangenen Tagen erneut zur Diskussion. Ein Titel, der nüchtern betrachtet heute gar nicht mehr dieselbe aufrüttelnde Sprengkraft haben kann wie damals 1966. Der im ersten Anlauf noch als „unspielbar“ abgelehnte Text aus der Feder des späteren Literatur-Nobelpreisträgers ist mittlerweile hinlänglich bekannt, wurde viel diskutiert, analysiert, und mindestens ebenso oft in unterschiedlichster Form auf die Bühnen gebracht. Selbst, wenn er auch im Eggenfeldener Programm explizit als „kein Schauspiel“ ausgewiesen wird.
Perfekte Reibungsfläche
Regisseur Johannes Lang (auch verantwortlich für die Ausstattung) hat sich in seiner kurzweiligen Umsetzung für die klassische Aufteilung auf vier Personen entschieden, die sich wiederum in zwei im Laufe des Abends klar herausgearbeitete Gegenpole aufspalten lassen. Zum einen die rationale Fraktion, klassisch elegant in schwarz und weiß gekleidet, verkörpert von Yvonne Köstler und Martin Puhl. Beide mit unbestechlichem Pokerface, aber gleichzeitig dennoch die Melodie und den Rhythmus von Handkes schnell getakteten Sprachkaskaden mit spürbarer Lust und hoher Virtuosität auskostend. Sie geben sich ebenso abgeklärt wie aalglatt und bilden gerade damit die perfekte Reibungsfläche für ihr Gegenüber. Namentlich für die farbenfroh gewandete Julia Ribbeck, die als quirlige Optimistin hin und wieder kleine Requisiten auf die leergeräumte Bühne zu schmuggeln versucht und sich später für ihre hartnäckigen (und natürlich als konservativ belächelten) Spielversuche im wahrsten Sinne des Wortes kreuzigen lassen muss.
Komplettiert wird das wortgewandte Quartett schließlich noch durch Norman Stehr, der – vom Stammpublikum nicht unbemerkt – im vorderen Parkett Platz genommen hat. Er darf sich zunächst stellvertretend für die um ihn herum Sitzenden beherzt grummelnd mit den Theaterverweigerern oben auf der Bühne anlegen, ehe auch sie das Proszenium verlassen und nach intensiven Blickwechseln mit dem Saal nun den direkten Kontakt zum Publikum suchen. Obwohl potenzieller Protest und verbale Reaktionen bei den schnellen Wortwechseln untereinander eh kaum eine Chance hätten. Nicht, dass eine Eskalation groß zu befürchten gewesen wäre. Schließlich macht der Titel ja von vornherein klar, worauf man sich bei diesem Theaterabend freiwillig einlässt.
Großes Wut-Crescendo
Die „Publikumsbeschimpfung“ ist zwar auch in Eggenfelden alles andere als zahnlos, aber doch definitiv kein Skandal mehr. Nicht zuletzt, weil die abschließende (leicht aktualisierte) Schimpftirade, die nach den ersten augenzwinkernden Beleidigungen als großes Wut-Crescendo im vierstimmigen Chor endet, niemanden ausspart und der ätzende Spott gleichmäßig verteilt wird. Konsumverliebte Kapitalisten werden da ebenso wenig verschont wie querdenkende AfD-Wähler oder deren links-grünes Feindbild. Scharfzüngige Kritik und vermeintliche Zustimmung Hand in Hand.
Viel spannender als jeder künstlich aufgebauschte Streit um die moralische Vorherrschaft bleibt aber letztlich Handkes rhetorisch geschliffener Diskurs über das Theater als darstellende Kunstform und die vielschichtige Beziehung zwischen den Kunstschaffenden und ihrem Publikum. Jener unbekannten und unberechenbaren Größe, ohne die Theater eben kein Theater wäre. Denn auf dieser Ebene gelingt es dem Stück, das keines sein will, immer noch, die Emotionen der Menschen im Saal wachzurütteln. Weniger durch (zum Glück?) nicht eintretende Zwischenrufe, wohl aber in der nahtlos an die Aufführung anschließenden Diskussion mit dem schlagfertigen Ensemble. Und selbst, wenn hier im Publikum durchaus unterschiedliche Meinungen aufeinandertrafen, was Theater darf, soll oder muss, gab es zumindest in einer Hinsicht einen Konsens: Langweilig war es an diesem Abend niemandem!