Foto: Youn-Seong Shim, Mark Watson Williams, Frederik Schauhoff und Gregor Dalal in "Galen" am Theater Münster © Oliver Berg
Text:Konstanze Führlbeck, am 15. Mai 2022
Die im Auftrag des Münsteraner Theaters entstandene Oper porträtiert den „Löwen von Münster“ nicht in einer Apotheose, sondern als Mensch voller Widersprüche. Die Geschichte ist in eine Rahmenhandlung eingebettet: Filmszenen zeigen Befragungen von Passanten auf der Straße über Kardinal Galen. Manche haben Vorwissen, andere kennen seinen Namen nur, weil Straßen und Plätze nach ihm benannt sind. Die junge Muslimin Jasmin (Kathrin Filip) fängt an, über ihn zu recherchieren.
So wie sie in seine Zeit eintaucht, rollen Etappen seines Lebens in 20 miniaturartigen Bildern ab. Dazu hat Andreas Becker einen abstrakten Seelenraum mit markanten Betonmauern entworfen, links ist ein Beichtstuhl angedeutet. Hier sind Stimmungsbilder voller atmosphärischer Dichte möglich, aber auch konkrete Einzelszenen können sich in ineinander geschachtelten Räumen entfalten. Hier bricht die Welt der Nationalsozialisten mit einem surreal übergroßen Hakenkreuz zerstörerisch ein.
Verklammert werden die Szenen durch die Musik von Thorsten Schmid-Kapfenburg. Sie ist von drei Themenbereichen dominiert: Der assoziationsreichen Farbe Rot – Farbe des Blutes, des Lebens, des Leidens und der Gefahr, der Stärke, des Zorns, aber auch der Wärme und der Liebe und nicht zuletzt des Kardinalsornats – ist eine Ganztonleiter in der Instrumentation eines Flöten-Klarinetten-Mischklangs zugeordnet. Galen ist durch zwei Akkorde charakterisiert, die zueinander in Beziehung treten und seine Kontroverse reflektieren. Eine nicht ganz strenge Zwölftontechnik ist die Klangsprache der Nationalsozialisten um Gauleiter Meyer (Mark Watson Wiliams) und den Gestapo-Mann (Frederik Schauhoff).
Diese drei Komplexe verweben sich oder werden im Orchesterkörper flächig gegeneinander gesetzt und generieren in ihrer Begegnung immer wieder neue Impulse, die Golo Berg und das Sinfonieorchester Münster in klaren Konturen transparent werden lassen.
Ein Mensch voller Widersprüche
Galen (Gregor Dalal) tritt sofort nach den dunklen Glockenschlägen des Anfangs Jasmin entgegen. Der Chor kommentiert das Verhalten des Münsteraner Bischofs in der NS-Zeit. Einzelne Stimmen treten daraus hervor und werfen Schlaglichter auf Galens Persönlichkeit: Nichts war modern an ihm, ein Kind seiner Zeit sei er gewesen, doch aufrecht und voller Mut und deshalb ein Vorbild – trotz allem, was wir heute nicht verstehen.
Das Publikum begegnet Galen bei einschneidenden Ereignissen der Jahre 1933 bis 1946. Er sucht Klärung im Gespräch mit seinem Bruder Franz von Galen (Young-Seong Shim), seinem Studienfreund Pfarrer Coppenrath (Stephan Klemm) oder Rabbiner Steinthal (Enrique Bernardo), die ihn zur Stellungnahme zu den bestürzenden politischen Entwicklungen auffordern, in Beratungen mit Regens Francken (Mark Coles) und seinem Sekretär (Christian-Kai Sander) ebenso wie in imaginierten Begegnungen mit seiner Mutter (Suzanne McLeod), in denen er sich zu seiner Haltung durchringt.
Immer wieder integriert Schmid-Kapfenburg auch originale Tondokumente in seine Partitur. In Stefan Mosters Libretto finden sich Zitate aus Galens berühmten Predigten gegen die Vertreibung der Ordensgeistlichen und gegen die Tötung „unwerten Lebens“. Jasmin fällt dabei aber sowohl seine Zurückhaltung gegenüber den Hilfe suchenden Juden als auch sein unreflektiertes Festhalten am Deutschtum mit seinen Werten auf. Was ist mit den anderen, den Engländern, den Franzosen, den Russen, all den Menschen, die flüchten mussten, hält sie ihm in Gedanken vor.
Galen ist eben ein Mensch, kein unfehlbarer Heiliger. Doch gerade als Mensch, der in seiner Widersprüchlichkeit und in seinem Ringen uns wieder nahe kommt, lässt Gregor Dalal in seiner stimmlich wie darstellerisch packenden Interpretation Clemens August von Galen lebendig werden – in seiner Größe und in seinen Grenzen. Und Jasmins Rundgang durch Münster mit seinen Erinnerungen an die Vergangenheit, aber auch den Anspielungen an die großen Ereignisse unserer Zeit wie den Krieg in der Ukraine und die anhaltenden Flüchtlingsströme, fordert uns auf, über unsere Grenzen hinauszuwachsen, zu handeln und nicht wegzuschauen – wie Galen es tat, im Namen des Glaubens und der Menschlichkeit.