Intendant Moritz Gogg setzt damit am Eduard-von-Winterstein-Theater die Reihe mit Werken von im Nationalsozialismus verfolgten Komponisten fort. Tatsächlich handelt es sich bei „Das Walzerparadies“ fast um eine Phantom-Operette. Deren zweiter Teil spielt im zum Erzgebirge nahe gelegenen Karlsbad. Das böhmische Kurparadies erfährt dabei eine gattungsspezifische Huldigung als Gaudi- und Seitensprung-Eldorado. Eine vollständige Partitur gibt es nicht. Basis der Annaberger Aufführung war ein gedruckter Klavierauszug mit detaillierten Hinweisen zur Instrumentation. Schauspielkapellmeister Markus Teichler hatte ein handschriftliches Potpourri mit der Originalinstrumentation gefunden und instrumentierte die anderen erforderlichen 90 %.
Wahre Liebe und Geld
Einiges aus dem Textbuch von Alfred Grünwald nach Louis Verneuil wirkt bekannt: Die parallelen Interessen reicher Eltern an der Heirat ihrer Kinder, die Fluchten gestandener Ehemänner mit Kurschattenambitionen, die kanaillenartigen Griffe einer ‚Baletteuse‘ nach der nächsten guten Partie, die (verflüchtigte) Liebe von Kindern gegnerischer Konzernbosse und schließlich der Wandel einer Zweckehe zur echten Liebesehe. Punktum. Das Premierenpublikum zog in Feierlaune mit und bejubelte Hits wie den Foxtrott „Fräulein Mizzi und ihr Leutnant“, in den sich der Radetzkymarsch so hineinbohrt wie Bizets „Carmen“-Motiv in den „keuschen Josef“ aus „Madame Pompadour“.
Wie schon bei den Annaberger Operettenentdeckungen „Der reichste Mann der Welt“ und „Der Fürst von Pappenheim“ geht es in „Das Walzerparadies“ um Synergien von Geld und wahrer Liebe. In Annaberg gibt es für dergleichen ein bestens disponiertes, unerlässliche Dialog- und Pointensicherheit zeigendes Ensemble. Die Kombination von jungen und nicht mehr ganz jungen Mitwirkenden sowie in Mimenwürde alternden Bonvivants sitzt perfekt. Sie alle präsentieren die ziemlich langwierig gestreckten Nichtigkeiten mit von Regisseur Oliver Pauli pantomimisch und tänzelnd aufgelockerten Filigranbewegungen. Das gibt der Produktion etwas Schwebendes, zumal die Drehbühne in Bewegung ist wie eine Schellackplatte in Zeitlupe. Martin Scherm setzte darüber einen in blumigen Farben angestrahlten Grammophontrichter und hinten eine Nadel. Sein Bühnenbild selbst gemahnt also an die mit Skepsis beschworene gute alte Zeit.
Das Ensemble
Es ergibt sich, dass das physische Alter des Baritons Jakob Hoffmann als Vater Polleder und des Tenors Richard Glöckner als Sohn Poldi fast identisch ist. Beide sind sie derzeit die Strahlemänner im Annaberger Ensemble und nach ihrem fulminanten Zusammenspiel in Balfes „Satanella“ auch hier ein Superduo. Die emanzipatorischen Anwandlungen von Mitzi Domayer, die sich vorerst erfolgreich gegen die Heirat mit Poldi sträubt, zeigt Zsófia Szabó in einer kraftvoll lyrischen Stimmartikulation. Neben Hoffmann spielt László Varga als Hutfabrikbesitzer den zweiten Mann auf Eheabwegen. Bettina Grothkopf ist eine imposante Mutter Polleder mit getürmten Pudellocken und hochdramatischen Tönen, Leander de Marel ein lebenskluger Großvater mit glühenden Augen.
Maria Rüssel gibt Poldis ‚Gspusi‘ Gaby Ritzinger als Skalaverschiebung von grober Anmache zu galanter Durchtriebenheit. Vincent Wilke ist Mitzis sympathischer Ex-Verlobter. Gunnar Frietsch, Juliane Prucha und Stephanie Ritter füllen die Soli-Schar bestens angemessen auf. Oliver Pauli hat nach Eduard Künnekes „Herz über Bord“ in seiner zweiten Inszenierung elegante bis lustige Einfälle. Eine lange Tafel balancieren die Zusammensitzenden ohne Tischbeine auf ihren Beinen. Poldi und Mitzi hangeln am Schalltrichter des Grammophons, bis sie das gegenseitige Liebesgeständnis aus der unangenehmen Situation erlöst. Pauli sprang bei der Premiere für einen erkrankten Kollegen in gleich vier Rollen des gastronomischen Gewerbes ein.
Massenszenen und Leichtigkeit
Im zweiten, dem Karlsbader Teil verliert sich der überaus flexible Mobilitätscharme seiner Inszenierung etwas, auch weil da immer mehr Massenszenen das großbürgerliche Komödienstück Richtung ‚klassische Operette‘ wuchten. Mikroports für die Sänger*innen erzeugten lautstarke Klangkraft, obwohl Oscar Straus‘ Orchestersatz von vaudevillehafter Leichtigkeit getragen ist. Die musikdramatische Pointe eines leichten und kurzen Verklingens am Ende wurde durch den Austausch des ersten und dritten Finales durch eine effektvolle Coda ersetzt. Dieter Klug verlieh dem Werk mit der Erzgebirgischen Philharmonie Aue und dem von Kristina Pernat Ščančar geleiteten Opernchor die etwas robustere Passform der frühen 1930-er Jahre.
Gelungen war insgesamt eine prima Balance zwischen szenischen Anlässen und Ensemblespiel, welche die vielen angerissenen Stränge der Handlung ins beste Licht setzten. Ein Repertoirestück oder gar Konkurrenz zu Straus‘ „Walzertraum“ wird „Das Walzerparadies“ höchstwahrscheinlich nicht. Parallele Entdeckungen wie Joseph Beers „Prinz von Schiras“ sind da einfach substanzreicher. Die nächste Oscar-Straus-Entdeckung folgt im Februar am Theater für Niedersachsen Hildesheim mit „Hochzeit in Hollywood“.