Verschmelzung der Künste
Das spielt Regisseur Àlex Ollé (Mitarbeit: Susana Goméz), der dem katalanischen Kollektiv La Fura dels Baus angehört, in vollen Zügen aus: Die vielen musikalischen Umschwünge werden szenisch nachvollzogen. Plexiglasscheiben (Bühne: Alfons Flores) verdoppeln nicht einfach die Raumordnung, sondern erzeugen in Form von Scherben eine Vielschichtigkeit und werden mit Videoprojektionen von Emmanuel Carlier bespielt.
Energetische Tanzszenen dynamisieren den Raum um ein Weiteres. Die Choreografien greifen auf ein barockes Gestenrepertoire zurück, schlagen aber auch eine Brücke zu zeitgenössischen Tanzstilen. Choreograf Martin Harriague formt symmetrische Ornamente, vergrößert die Figuren tänzerisch und zeigt das (queere) Gefolge von Vénus, das eine divenhafte Choreo à la Beyoncé hinlegt. Tänzer:innen der Compagnie Dantzaz und der Chor tanzen teils zusammen und lassen sich nicht mehr unterscheiden. Das spricht nicht nur für eine organische Ensembleleistung, sondern auch für eine allmähliche Verschmelzung der Künste. Klackernde Absatzschuhe und Rufe der wogenden Menge mischen sich in den Orchesterklang und verbinden Bühne mit Graben.
Inbrunst und Lebendigkeit
Der großräumige Saal der Berliner Staatsoper verschluckt die teils fein ziselierten Klänge nicht. Emmanuelle Haïm leitet ihr Ensemble Le Concert d’Astrée mit viel Inbrunst, Lebendigkeit und zugleich einem Feingefühl für innige Stellen – wenn etwa die Flöten anmutig mit den Sänger:innen konzertieren. Kettenrasseln im Graben, Trommel, Schellenkranz und zusätzliche Soundeinspielungen sorgen für eine fast hörspielartige zusätzliche Klangschicht, die manchmal platt, aber zugleich effektvoll wirkt. Der Chor (Leitung: Denis Comtet) überzeugt mit sowohl üppigem als auch schwebendem und immer sauber geschichteten Klang.
Die stimmfachliche Bandbreite, die die Tragédie bietet, findet klangfarblich ihre Entsprechung in der Besetzung. Eva Zaïcik präsentiert Vénus mit weichem Stimmansatz in einem fast porzellanartigen Stimmklang. Chiara Skerath verleiht Ilione mit bissiger Deklamation und schnellem Vibrato einen dramatischen Impetus. Samuel Boden überzeugt als Idamante mit leicht ansprechender hoher Tenorstimme, wobei die deklamierten Passagen nicht so recht über die Rampe kommen. Enguerrand de Hys bleibt als Arcas mit markantem Timbre im Ohr.
Götter als Alter Ego
Anders als bei Mozart sind die Figuren bei Campra stark in das Kräftespiel der Götterwelt eingebunden. Ollé nimmt das ernst, aber Fremdbestimmung und Widerfahrnis sind hier nicht die weltbewegenden Prinzipien. Der der Handlung vorangegangene Trojanische Krieg hat die Figuren traumatisiert. Ollé verlegt die Götter daher in die Figuren selbst, macht sie zu ihren Alter Egos. In Duetten kommt kaum Blickkontakt zwischen den Figuren auf. Videoprojektionen blenden in ihr Inneres. Alle sind mit ihren inneren Kämpfen beschäftigt. Tassis Christoyannis durchlebt Idoménées unstete Gefühlslage stimmlich und bricht beinahe veristisch in Schluchzen, Flüstern, Schreien aus.
So richtig kommt dieser psychologische Ansatz aber nicht über die Rampe. Er bleibt etwas überdeckt von den Spektakelszenen, den häufigen musikalischen Umschwüngen und der virtuosen Gesamtchoreographie des Abends. Ein großer interpretatorischer Bogen wird nicht so ganz daraus, aber darüber kann man teilweise hinwegsehen. Denn dieser Abend entfaltet seine Qualität auch dadurch, in dem er mit raffiniert gebautem und ästhetisch aufregendem Musiktheater aufwartet, das gerne länger andauern dürfte. Der kurzweilige Abend endet völlig abrupt – tragisch statt versöhnlich wie bei Mozart: Idoménée hat Idamante im Wahnsinn getötet. Ilione will selbst sterben und veranlasst, dass Idoménée als Strafe am Leben bleiben müsse. Das alles geht so plötzlich vonstatten, dass man diese Produktion schon deshalb ein zweites Mal erleben sollte.