Foto: Sprint ums Podest: Nele Sommer und Michael Schröder in "Der Zinnsoldat und die Papiertänzerin" © Cordula Treml
Text:Manfred Jahnke, am 27. Juni 2020
Die Schulen haben im Augenblick alle Hände voll damit zu tun, sich neu zu organisieren und sich neu zu orientieren. Sie werden sich daher im Augenblick nicht sonderlich bemühen, mit vielerorts immer noch nicht zusammengeführten Klassen Kindertheatervorstellungen zu besuchen. Was wiederum dazu führt, dass Kinder- und Jugendtheater im Augenblick ein Programm für Familien fahren, Notprogramme entwickeln, alte Inszenierungen auf „Coronatauglichkeit“ umstellen oder seltener: Neuinszenierungen herausbringen.
Dies hat Andrea Gronemeyer an der Schauburg München gewagt, wobei ihr das Setting des Stücks „Der Zinnsoldat und die Papiertänzerin“ von Roland Schimmelpfennig, das dieser selbst 2019 am Jungen Staatstheater Berlin inszenierte, viele Pandemie-kompatible Inszenierungsmöglichkeiten eröffnet. Denn der bekannte Dramatiker entwickelt seine Fassung des Märchens von Hans Christian Andersen von dessen Schluss her: Der Zinnsoldat, der vergeblich in die Tänzerin verliebt ist, verschmilzt im Ofen zusammen mit der Tänzerin, die auch dort landet, zu einem Herzen. Schimmelpfennig entwickelt aus der Beziehung der beiden eine Parallelgeschichte: Hier macht die Papiertänzerin eine Reise gen Himmel, wird von einer dunklen Wolke verjagt, von einer Elster als Spielzeug für seine Jungen missbraucht, um schließlich wieder in der Küche „daheim“ zu landen. Sie erhält also bei Schimmelpfennig eine eigene Geschichte, die hoch in die Luft führt, während die des Zinnsoldaten in die Tiefe führt, in die Kanalisation, dann in den Fluss und schließlich in den Bauch eines Fisches, der wiederum in der Küche „daheim“ landet.
Schimmelpfennig nimmt einen weiteren Eingriff vor. Während Andersen sein Märchen ohne Happyend auserzählt, spielt der Autor zwar mit diesem Motiv, aber sie werden vorm Feuertod bewahrt, können zueinander finden. Das leistet er mit einem Trick aus dem Erzähltheater: Beide erzählen ihre Geschichte, also können sie nicht gestorben sein. Genau die schnellen Wechsel zwischen Erzählerebene und dramatischer Handlung machen den großen Reiz dieser Bearbeitung aus. Andrea Gronemeyer radikalisiert diesen Ansatz noch. Nele Sommer und Michael Schröder jagen als Erzähler um ein rundes Podest herum. Auf dem liegt eine Leinwandscheibe, die in die Höhe gezogen werden kann (Ausstattung: Mareile Krettek). Nele Sommer bewegt sich in ihrem Lauf in angedeuteten tänzerischen Drehungen, Michael Schröder eher draufgängerisch, aber nicht militärisch. Beide aber halten (fast) immer großen Abstand zueinander. Sie haben im Raum auch feste, in der Position entgegengesetzte Ruhepunkte, von denen aus sie auch das Publikum anspielen können. Diese Erzählerebene wird konsequent in der Bewegung durchgehalten.
Wenn es in die Spielebene geht, übernehmen Puppen sozusagen das Handeln, es wird also deutlich zwischen Erzähl- und Spielebene unterschieden. Da sich beide auch immer wieder einmal vermischen, kommt es allerdings dazu, dass die Puppen nicht animiert erscheinen, sondern eher als Requisiten geführt werden. Sie erhalten so die Funktion einer Stellvertretung: Weil die Spieler Abstand halten, agieren für sie die von ihnen geführten Figuren. Um dabei die verschiedenen Sphären – Himmel und Tiefe – als Handlungsräume zu definieren, wird die Fläche hochgefahren, um darauf Wolken (Himmel), Wasser (Kanalisation) und Regentropfen, die zum „Absturz“ der Papiertänzerin führen, zu projizieren. Ansonsten wendet Andrea Gronemeyer minimalistische Mittel an. Mal werden mit der Tänzerin als Stabpuppe Schattentheatereffekte übernommen, mal auch das Pars-Pro-Toto-Prinzip genutzt, wenn für die „ganze“ Elster überdimensionierte Krallen einstehen. Eine wichtige Funktion in dieser Inszenierung übernimmt dabei die Musik von Taison Heiß und Greulix Schrank, der als Livemusiker auf der Bühne ist – sie kreieren mit ihren Stimmungen eine spannungsgeladene Atmosphäre, die der Inszenierung etwas Geheimnisvolles gibt und deutlich macht, dass Andersen seine Erzählungen gern die schlimmstmögliche Wendung nehmen lässt. Nach anfänglicher Befangenheit laufen Nele Sommer und Michael Schröder ganz groß auf, switchen blitzschnell zwischen den Ebenen, tauschen die Rollen und halten dabei eine Freundlichkeit gegenüber ihren Figuren durch, die überzeugt, kurz: Der Abend ist ein kleines komödiantisches Kunstwerk. Übertroffen werden die beiden nur von dem Musiker Greulix Schrank, der in einer Kurzrolle den den Zinnsoladen fressenden Fisch spielt; Fressen oder Nicht-Fressen, das spielt Schrank groß komödiantisch aus.
Es ist schön, wieder in einem Theater zu sitzen, ganz gleich, ob man persönlich an den Platz geführt werden und immer die Maske auf haben muss, während die Spieler ohne agieren; als Zuschauer hat man in diesen Zeiten ganz viel Raum, sitzt als Familie, Paar oder eben alleine auf einer Bank. Die bange Frage bleibt nicht aus: Kann unter solchen Voraussetzungen das Theater für Kinder und Jugendliche insbesondere in der „freien“ Szene überleben?