Foto: Der Sommernachtstraum wird zum Trauma: das herausragende Tanz-Ensemble in Goyo Monteros Shakespeare-Adaption. © Jesús Vallinas
Text:Dieter Stoll, am 16. Dezember 2018
Sollte ein spontaner Besucher in diese Nürnberger Tanztheater-Uraufführung „nach Shakespeare“ geraten, nur weil sie so verlockend original als „A Midsummernight’s Dream“ angekündigt ist, könnten die ersten Minuten der Vorstellung zur Herausforderung des eigenen Bildungsbewusstseins werden. Der Vorhang geht hoch über Nacht und Wind, man sieht auf der Bühne hinter einer schattigen Gestalt und einer sich windenden Puppe („Es ist der Vater mit seinem Kind“) die beinahe unsichtbaren Trikots des Schwarzen Theaters und vernimmt die von Schubert in den Stand des Kunstlieds erhobene Frage „Wer reitet so spät…?“. Bedrohlich schwillt die Ballade an zum Munch-Schrei, harter Schnitt in Klang und Optik, ehe Mendelssohn-Bartholdys tosender Hochzeitsmarsch eine bleiche Gesellschaft namens „The Society“ (Station Zwei von 14 portionierten Szenen, in die das Stück very british mit Titeln wie „Entering the Forest“ aufgeteilt wird) überspült. Die Formationen uniformierter Gesellschaft sind vergebliche, mit großer Kunstfertigkeit umgesetzte Bemühungen um Haltung, brechen im hochgereckten Stolz immer wieder in sich zusammen und würden jeden Ballsaal beim „Tanz der Vampire“ schmücken.
Choreograph Goyo Montero, der als einziger Spartenchef den Nürnberger Intendanzwechsel von Peter Theiler zu Jens Daniel Herzog überhaupt und sogar glänzend überstanden hat, führt nach der ersten Dekade seine Programmatik weiter. Das ist, wenn es um die jährliche Großproduktion mit Neuigkeitsanspruch geht, stets der Griff ins Sortiment der populären Titel (von „Romeo und Julia“ über „Faust“ bis „Don Quijote“), der die wesentlichen Teile bekannter Geschichten in überraschende Zusammenhänge gliedert. Sein „Sommernachtstraum“ ist ein Trauma. Die vergebliche Suche nach dem Glück, die Angst vor dem Verlust, die Aggression gegen das Unbekannte überlagert die komödiantischen Elemente, versperrt den Ausweg ins Romantische. Der todbringende „Erlkönig“ wird Impulsgeber für das Stück, er lässt dunkle Ahnungen ins Ungefähre sprießen. Der Sound übernimmt – in der Mixtur aus Auftragskomposition (der ständige Begleiter Owen Belton sorgt mit raffiniertem Elektro-Soundtrack für sichere zeitgenössische Basis), Kunstlied-Konserve und Live-Klassik der Staatsphilharmonie (Dirigent Lutz de Veer hält die montierten Elemente souverän zusammen) steckt permanent der Reiz der Irritation.
Die Zauberwald-Bühne von Goyo Montero und Eva Adler lässt Assoziationen rattern. Die ersten Seile aus dem Himmel machen die Szene zur Turnhalle, aber dann folgen hunderte dieser hängenden Stricke mit Leuchtspur-Ende, verdichten sich zu kafkaesk unentwirrbarer Bedrohung, können Natur repräsentieren oder auch die Leitung, die irgendwo den Anschluss braucht. Die Plattform darunter ist beweglich, teilt die Welt in Etagen, kippt die Rampe zur Rutschbahn. Dort sind die Akteure krabbelnde Monster oder hochgereckte Traumgestalten, werden vom Sog der eigenen Gefühle aus der Bahn geworfen oder in Zwischenwelten von Illusion und Wirklichkeit eingefroren. Sie tanzen und schreien, äffen dem Wohlklang hinterher und liefern selbst ästhetische Perfektion.
Goyo Montero gab im Programmheft-Interview bereitwillig Auskunft über die Sorge um seinen kleinen Sohn als Anstoß für das Stück, wie er es sieht, aber man kann auch jenseits der Privatsphäre starke Verbindungen finden. Schließlich war einst der Puck, Shakespeares Kobold mit Publikumslieblings-Garantie, eine Vorzugsrolle für den Tänzer Montero in der Berliner Version von Heinz Spoerli, und das unverbrauchte Interesse für dieses sprunghafte Schelmenwesen prägt auch die aktuelle Produktion. Alexsandro Akapohi ist dieses körperlich wie charaktermäßig biegsame Gespinst, geradezu ein Labortriumph aus allen durchs Bild huschenden Götter- und Menschengestalten. Kindlich altklug, alterslos weise, rücksichtslos vital – alles steckt da drin. Er tanzt nicht nur grandios, seine Präsenz ist wunderbar.
Die anderen Solisten-Rollen (allesamt imponierend: Oscar Alonso, Luis Tena, Rachelle Scott, Nuria Fau) verblassen dagegen samt ihrer Verwechslungs-Dramatik etwas, aber der unheimlich starke Gegenpol für die nötige Balance steckt ohnehin im Kollektiv. Tatsächlich war die Nürnberger Compagnie der zwei Dutzend Solisten schon lange stark, aber noch nie so homogen wie bei diesem Einsatz, in dem traumhaft schöne Gruppenbilder wie für eine Galerie gemacht sind. Montero, der mit Shakespeares Komik der sarkastischen Theaterparodie nicht viel anfangen kann, entfaltet im großen Auftritt depressiver Gruselwelten kontrolliert wuchernde Phantasie. Faszinierend, wie da Gefühle fixiert, auf die Spitze getrieben und in Bewegung übersetzt werden. Nacht und Wind gehören immer dazu. Die Verknüpfung der Szenen bleibt allerdings für den Betrachter problematisch, sollte er der zusammengepflückten Auswahl der Einzelteile nicht vorbehaltlos folgen. Da würde sich dann die Frage stellen, ob während der von Goethe, Schumann, Schubert und Brahms umstellten Shakespeare-Proben nicht eine Entspannungsübung mit Woody Allens Verfilmung hilfreich gewesen wäre. Zumindest der Puck in diesem „Midsummernight’s Dream“ hatte das nicht nötig. Er schlich am Ende staunend wie ein großer Junge durchs Opernhaus-Parkett und schüttelte dem Publikum die Hände. Kommunikation ist in der Kunst der halbe Weg zum Erfolg. Der Beifall war entsprechend.