nocturno-1076.jpg

Durch Dunkelheit zum grellen Alltag

Georg Friedrich Haas: Nocturno

Theater:Theater Bonn, Premiere:23.03.2013 (UA)Regie:Florian LutzMusikalische Leitung:Christopher Sprenger

Diesmal, zu „Nocturno“ in der Bundeskunsthalle in Bonn, sind wir ausnahmsweise nicht bei der Premiere gewesen, sondern bei der Derniere. Denn dies war eine letzte Vorstellung in gleich zweierlei Hinsicht. Zum einen wurde die Produktion „Nocturno“ letztmalig aufgeführt. Es ist ein Abend mit Kompositionen des zur Zeit sehr angesagten Grazer Neue-Musik-Sensibilisten Georg Friedrich Haas – Kompositionen, die eine szenische Lösung nicht unbedingt herausfordern, zu denen der Regisseur Florian Lutz aber dennoch eine solche gefunden hat, die sogar weit mehr ist als das: Nicht nur eine Lösung, sondern wirklich ein Geniestreich, der dem Namen der Reihe Bonn Chance! – Experimentelles Musiktheater der Bonner Oper noch einmal alle Ehre macht. Zum anderen aber war es auch die letzte Vorstellung dieser Reihe, in der man seit 1993 Gelungenes und weniger Gelungenes gesehen hatte, die dabei immer mutig war und für ihre mutigen Experimente ein treues Publikum gefunden hat. Ab Sommer wird Bernd Helmich als neuer Intendant des Theaters der Bundesstadt Bonn sein Amt antreten, und es ist offen, ob und wie er diese Tradition weiterführen will.

Haas hat nur eines von drei Stücken extra für diese Produktion komponiert: das titelgebende „Nocturno“, ein Fast-a-cappella-Chorsatz für Frauenstimmen und Akkordeon zu Texten von Novalis und Georg Trakl, die aber nahezu unverständlich bleiben und lediglich das Material für extreme Lautverfremdungen liefern. Über dieser Partitur steht die seltsame Anweisung: Im Dunkeln zu spielen/zu singen. Und dafür liefert das Werk plausible Gründe. Denn der Satz aus komplex und feinteilig ineinander verzahnten Stimmen von faszinierender gestischer Intensität fordert Ohr und Geist zu höchster Konzentration heraus – und belohnt diese Konzentration mit einem intensiven Abenteuer des Hörens. Die anderen beiden Teile, „Haiku“ für Bariton und zehn Instrumente und „Atthis“ für Sopran und acht Instrumente, hat Haas ursprünglich als Konzertmusik komponiert („Haiku“ wurde bereits 2005 in Witten, „Atthis“ 2010 in der Berliner Philharmonie uraufgeführt) und nun in alternierenden Abschnitten ineinandergearbeitet. Dadurch ergibt sich quasi ein Dialog zwischen dem Bariton, der den Text eines klassischen japanischen Haiku von Yosa Buson singt, und der um ihre Gefährtin klagenden griechischen Dichterin Sappho.

Haas hat in beide Kompositionen viel Bildung und viel Empfindungs-Empathie investiert. Eine dramatisch zwingende Form oder auch nur einen thematischen Beziehungsreichtum entwickeln sie in der neuen Kombination aber allenfalls auf einer sehr allgemeinen Ebene. Nach dem „Nocturno“ klagt der Bariton über die Kürze der Nacht, es folgt der Nachtgesang einer Verlassenen. Nun ja… Insofern war es nicht nur vertretbar, sondern ein wirklicher Coup, dass Florian Lutz die Musik lediglich als Material für seine extreme szenische Überformung nimmt. Ganz nah am Werk bleibt er nur in „Nocturno“: Hier werden die Zuschauer angehalten, sich Schlafmasken aufzusetzen. Damit ausgestattet, werden sie in den Aufführungsraum geführt, versinken stehend in tiefster Dunkelheit, und wer sich auf diese Situation einlässt, wird mit einem Hörerlebnis von beispielloser Intensität belohnt. Die 15 Minuten vergehen wie im Fluge. Als der erste Orchesterschlag des ersten „Haiku“-Teils die Dunkelheit beendet und man geblendet in die neonkalte Helligkeit starrt, glaubt man kaum, dass die Zeit schon vorbei ist. In der Tat: „Die Nacht so kurz – oh!“. Und der Tag so grell.

Jetzt aber sehen sich die Zuschauer einem seltsamen Interieur des Ausstatters Christoph Ernst gegenüber: Auf einer Empore ist eine kleine, popbunt ausgemalte Mehrzimmerwohnung mit Küche, Schlafzimmer, Toilette und Wohnzimmer aufgeschlagen, gegenüber schimmert auf einem Podest eine vornehme Tafel in blendendem Weiß, Stellwände mit pornographischen Fotos begrenzen den Raum. Die Zuschauer werden animiert, das Interieur zu bevölkern, Teile des Geschehens werden per Livekamera auf Monitore übertragen, und alsbald wird in der Küche gemeinsam Essen zubereitet, an der Tafel wird getafelt, man kann sich an den Kühlschränken mit Getränken bedienen – und inmitten der teils flanierenden, teils mitagierenden, teils auf Stufen oder Stühlen sitzenden Zuschauer klagt die Sappho-Sopranistin ihr Leid, der Bariton gewinnt der unermüdlichen Wiederholung seiner drei (hier gut verständlichen) Textzeilen einigen komödiantischen Witz ab. Das Seriöse trifft auf das Buffoneske, und so entsteht durchaus eine gewisse Binnenspannung zwischen beiden Werken: Sappho scheint es darauf anzulegen, als Dame des Hauses ihre Besucher mit in ihr Leid hineinzuziehen, während der Bariton den humorvollen Hausherrn gibt.

Doch der klügste Hintersinn dieses Abends liegt in der Zuschauer-Situation selbst: Nachdem Florian Lutz seine Besucher zunächst zur tiefsten Versenkung in die Komplikationen einer schon sehr Alltags-abgewandten Musik angehalten hatte, konfrontiert er unmittelbar darauf eine kaum minder komplexe Musik mit einer ziemlich banalen Alltagssituation. Er stellt damit sehr gezielt die Frage nach der Lebenshaltigkeit dieser Musik: Besteht sie in dieser Situation oder scheitert sie an ihrer eigenen Esoterik? Und das Verwunderliche ist: Sie scheitert nicht. Auf rätselhafte Weise setzt sich ihre Faszinationskraft gegen alle Verführung zur Geschäftigkeit drumherum durch, man sieht es den Zuschauern an, dass sie immer wieder gefangengenommen werden, dass sie der Klang mehr fasziniert als das Bier aus dem Kühlschrank oder der Salat in der Schüssel. Insofern beschert uns diese Inszenierung auf eine schon sehr verblüffende Weise einen Abend über die Kraft dieser Musik.

Das hätte freilich nie funktioniert ohne die nervenstarken, einfühlsamen Musiker: die enorm expressive, im Umgang mit den Zuschauern unglaublich selbstsichere Sopranistin Ruth Weber und der charmant komische Bariton David Pichlmaier; der von Sibylle Wagner vorzüglich präparierte Damenchor; und die ungemein musikalisch spielenden, auf der „Dachterrasse“ der Wohnung und den Emporen des Auditoriums weiträumig verteilten Instrumentalisten des Ensemble musikFabrik. Der Dirigent Christopher Sprenger behält in dieser komplizierten Raumsituation jederzeit den Überblick und sorgt für eine bemerkenswert gute Koordination. Und auch die Statisten, die die Zuschauer fast unmerklich unterwandern und sanft manipulieren, haben einen hohen Anteil an diesem Gelingen.