Foto: Eleven des Thüringer Staatsballetts in "1000 Worte" am Theater Altenburg-Gera © Ronny Ristok
Text:Thilo Sauer, am 10. Juni 2022
Diese kollektiven Erinnerungen sind der Grund, warum marginalisierte Gruppen auch nach Ende des Holocausts oder der Sklaverei viel mehr unter diesen grauenhaften Geschichten leiden, Nachkommen von Tätern trotz aller Empathie. Denn wir geben Geschichten und Erinnerungen an unsere Kinder und Nachkommen weiter, bis sie sich in die geistige DNA einschreiben. Der zweiteilige Ballettabend „Erzählte Erinnerungen“ am Theater Altenburg-Gera lädt sein Publikum ein, an einigen dieser Erinnerungen teilzuhaben, die aus anderen kulturellen und geografischen Kontexten stammen.
Ausstatterin Elena Köhler hat die Geraer Bühne am Park an drei Seiten mit weißen Tüchern abgehangen. Rechts sind Holzbauten ineinander gestapelt, die wie riesige Hocker oder Tordurchgänge wirken. Dann betritt die Tänzerin Ayano Yanagi in einem schlichten Kimono die Bühne mit einem großen Zeichenbrett in der Hand und setzt sich vor einem kleinen Spiegel, der auf dem Boden steht. Klänge der japanischen Gitarre und Flöte sind zu hören, die Gustavo Mordente Eda aufgenommen hat – der zwar am Haus meist als Tenor auf der Bühne steht, aber auch Schüler der traditionellen japanischen Musik war. Angeregt von Händen, die hinter dem Spiegel auftauchen, beginnt sich die Malerin mit dem blauen Kimono zu bewegen, wälzt sich über den Boden und wirft ab und zu ihr Bein in die Höhe. Aus den Holztoren tritt schließlich eine weitere Frau, die der vor ihr sitzenden Malerin mit kantigen Armbewegungen etwas erzählt, bevor sie sie sanft und mit kreisenden Bewegungen durch den Raum führt.
Tradition und Feminismus
Die Choreografin und Tänzerin des Thüringer Staatsballetts Yuri Hamano erzählt von der Malerin Uemura Shōen, eine der ersten erfolgreichen Künstlerinnen Japans, die im bijin-ga-Stil malte, der elegante Frauen aus der Gesellschaft in Kyoto zeigte. Ihren ersten Preis erhielt sie für das Bild „Schöne Frauen in vier Jahreszeiten“ und so erzählt auch Hamano das Leben der Künstlerin in vier Jahreszeiten: Im Winter kommt es zur Begegnung mit der verstorbenen Mutter, die zu einer Kraftquelle wird. Im Frühling folgt ein Kampf zwischen zwei Schriftzeichen, dargestellt von einem Tänzer und einer Tänzerin, die sich aggressiv gegeneinander gebärden.
Nach einem bemerkenswerten Solo der Tänzerin Yanagi, das nach oben strebt und bei dem jede Bewegung präzise ausgeführt wird, betritt ein Chor von Füchsen den Raum. Die Tänzer*innen bewegen sich gewohnt katzenhaft, scheinen aus einem Musical entsprungen. Dann ändert sich die Stimmung, die Bewegungen werden größer und erinnern an überzeichnete Kampfbewegungen. Das wirkt einfallslos, bis Gestalten in Armee-Helmen auftauchen: Der zweite Weltkrieg ist da.
Anschließend – im Herbst – beginnt die eigentliche Karriere von Shōen, als ein westlicher Investor ein Bild kauft. Hamano entwickelt daraus ein starkes Trio: Während der japanisch gekleidete Mann die Malerin meisten hält und hebt, stützt der westlich wirkende ihre Beine immer wieder und gibt ihr Hilfestellung. Dann löst ein anderer Mann in einfacher japanischer Kleidung den westlichen Käufer ab – denn Shōen habe auch ein ausgefülltes Liebesleben geführt. Dabei lässt sich die Frau immer wieder vertrauensvoll in die Arme der Männer fallen, führt sie aber auch selbst über die Bühne und behält so ihre Stärke.
Die Dramaturgie von Yuri Hamanos „Shōen – das Leben einer Frau“ wird schnell klar, wirkt vielleicht sogar simpel. Nicht jede Bewegung jedoch scheint nötig zu sein: Gerade kleine und schnelle Handstreiche muten unmotiviert an und werden von den jungen Tänzer*innen (der Abend wird komplett von den Eleven des Staatsballetts bestritten) oft nur unsauber ausgeführt – als wüssten sie nicht, wozu die Bewegung gut sein soll.
Kämpfe der Gruppen
Weniger eindeutig, aber deswegen interessanter ist die Choreografie „1000 Worte“: Fang Yi Liu (sonst Solo-Tänzerin des Leipziger Balletts) stammt aus der konfliktreichen Region Taiwan, die in den vergangen Wochen wieder vermehrt unter den Hoheitsansprüchen der Volksrepublik China zu leiden hat. In ihre Arbeit erzählt die Choreografin nun von ihrer Familie mit taiwanesischen, festland-chinesischen und japanischen Wurzeln sowie der Geschichte des Landes.
Wie bei der Immigrationswelle nach dem Zweiten Weltkrieg betreten die Tänzer*innen aus den vier Ecken die Bühne. Sie treten nah zusammen und eine Kollision zweier Körper setzt sich durch die gesamte Gruppe fort. Geschickt geführt entstehen neue Formationen, bis zusammengeknüllte Papierkugeln auf den Boden fallen. Fang Yi Lius Großvater schickte zahlreiche Briefe auf das Festland, ohne je etwas über deren Verbleib zu erfahren. Und so sind die Bewegungen von Victos Costa Santos auch von beeindruckender Spannung geprägt, zwischen der Abneigung und dem Wunsch, die Briefe anzusehen.
Dunkle Gestalten mit schwarzen Reishüten treten auf die Bühne. Dazwischen Felipe Dos Santos Vasques: Er wirkt stark und selbstbestimmt mit seinen geradlinigen Bewegungen, aber auch verloren. Wenn die dunklen Gestalten tänzeln, wirken sie fast höhnisch, überlegen. Zunächst allein, aber nicht ganz so einsam ist Andrea Castillo Gimenez, die Arme und Beine ähnlich kreisen lässt. Gebückt tänzelt sie dann um das restliche Ensemble, das sie in- und durcheinanderschiebt. Manche tragen so etwas wie Flügel an ihren Armen, die nach einer kurzen Verwandlung komplett an einer Tänzerin hängen. Sie ist zur Orchidee geworden, während mithilfe von Projektionen Tinte in dicken Bahnen über die Stoffvorhänge läuft. Ein roter Stempel wird eingeblendet, auf dem in chinesischer Schrift „1000 Worte“ steht. Fang Yi Liu beweist anregenden, weil so bedeutungsoffenen Choreografie, wozu die jungen Eleven fähig sind, die sich in ihren Soli Ausdrucksstärke und in den Gruppenchoreografie bemerkenswerte Einheit beweisen.