Foto: "Die Pest"/Oberhausen: Elisabeth Hoppe in einer lockdown-verschlossenen Stadt © Debo Kötting und Eva Lochner
Text:Hans-Christoph Zimmermann, am 3. Mai 2020
Der Arzt Rieux (Clemens Dönicke) steht an der Bühnenkante. Sein Blick streift über die leeren Zuschauerreihen des Theaters Oberhausen. Was er sieht, verbindet den gegenwärtigen Lockdown des Theaters mit der Zukunft einer von einer Epidemie verwüsteten Stadt. Sicherheitsmaßnahmen als Zeichen eines kommenden Todes. Es ist das einzige Mal in Bert Zanders Verfilmung von Albert Camus‘ Roman „Die Pest“, dass man Rieux leibhaftig zu sehen bekommt. So wie der Arzt sich am Ende des Romans als Erzähler zu erkennen gibt, so fungiert er hier als Cameraeye, aus dessen Perspektive der Abend erzählt wird. Zugleich spaltet Bert Zander allerdings mit Emilia Reichenbach als weiblichem Rieux noch eine Kommentatorin vom Mediziner ab. Sie streift durch die Stadt, durch Gärten und grüne Wälder und gibt düstere Statements zur Lage ab.
Auf Corona mit Camus‘ „Die Pest“ zu reagieren, heißt zunächst vereinfachen. Der allegorisch gemeinte Roman zielt, wofür er heftig kritisiert wurde, auf ein unhistorisch verallgemeinertes Unglück, das über die Menschheit hereinbricht – und war doch zugleich angeregt von Nazidiktatur und Holocaust. Camus beschreibt allerdings detailliert die unterschiedlichen Reaktionen der Bewohner und städtischen Institutionen auf die Epidemie. Die Parallelen zu heute sind insofern unübersehbar. Bert Zander, der am Oberhausener Theater bereits die Video-Installation „Schuld und Sühne“ erstellt hat, realisiert in Zusammenarbeit mit ZDF Kultur und 3sat eine fünfteilige Serie, die mehr Verfilmung als Videoinstallation ist, die in der Mediathek abgerufen werden kann. Bis Ende Mai kommt jeden Samstag eine weitere Folge dazu.
Die Oberhausener „Pest“ wirkt zunächst im strengen Sinne unfilmisch, weil sie keinerlei Räume etabliert, den Blick nicht weitet. Immer wieder zeigt die Kamera geschlossene Tore und Türen, blinde Fenster, zugemauerte Nischen. Der Blick läuft quasi vor die Wand einer urbanen Hölle. Symbol für Abschottung und Quarantäne, im wörtlichen wie übertragenen Sinn. Auf diese verschlossenen Öffnungen allerdings projizieren Zander und sein Team Köpfe und Körper der Darstellerinnen und Darsteller. Zunächst die Bürger der Stadt Oberhausen, die das Theater zur Mitwirkung aufgerufen hatte und die klein portionierte Erzähltexte in die Kamera sprechen. Aber auch die Profis des Oberhausener Ensembles, die die Romanfiguren verkörpern. So entsteht ein ständiger Wechsel dieser zivilgesellschaftlichen „talking heads“ und der professionellen „talkings heads“, die erzählend oder dialogisierend die Handlung vorantreiben. Handeln wird allerdings nicht gezeigt, sondern nur das Sprechen. Dieser permanente Sprachoutput hat mitunter in seiner Monotonie fast die Qualität Bernhardscher Überlebenskunst: Wer redet, ist noch nicht tot.
Strukturiert wird dieser Reigen an talking heads von Zwischentiteln, die Begriffe wie „Ratten“ oder „Tod“, aber auch den Namen der Figuren tragen. Die Musik malt dazu mit absteigenden Klavierakkorden und mollgetränkten elektronischen Sounds eine düstere, vielleicht sogar unheimliche Atmosphäre. Denn die Projektion dieser Köpfe und Körper deutet durchaus auch ins Fiktionale, vielleicht Phantastische dieser Erzählung. So ‚erscheint‘ die Concierge (Anna Polke), die die ersten toten Ratten entdeckt, nur als Schemen auf einer schäbigen Haustür, genauso wie später Rieux‘ Freund Tarrou (Mervan Ürkmez) oder Pater Paneloux (Elisabeth Hoppe). Am symbolträchtigsten wirkt diese Verfahren bei Rieux‘ Frau (Sina Martens), die zunächst als Kranke im Bett gezeigt wird, dann als Fata Morgana hinter einem Vorhang aus Trauerweiden – all diese Figuren werden im Verlauf des Romans auf die ein oder andere Weise sterben. Das Verfahren umfasst zum Teil aber auch die (Über-)Lebenden wie den schriftstellerisch dilettierenden Grand (Klaus Zwick) oder den Arzt Castel (Lise Wolle). Es bleibt unklar, ob damit Rieux‘ (Kamera-)Blick gemeint ist, dem all diese Figuren als unwirklich erscheinen; oder ob damit Camus‘ allegorischer Roman selbst gemeint ist. Rieux‘ pathetisches Standhalten in einem aufgeklärten Skeptizismus ist bei Zander mit dunkelblauer Gegenwartsmelancholie eingefärbt. Am greifbarsten wird das in Emilia Reichenbachs weiblichem Rieux, der durch Stadt und Wälder streift und am Ende des ersten Teils ein vernichtendes Urteil fällt: „Dummheit ist immer beharrlich. Das merkte man, wenn man nicht immer mit sich selbst beschäftigt wäre. In dieser Hinsicht waren die Menschen in unserer Stadt wie alle, sie dachten nur an sich.“