Foto: "The Colour" am Mainfranken Theater Würzburg © Falk von Traubenberg
Text:Michaela Schneider, am 25. April 2015
Unheimlich anmutende Glissandi, düsterer Percussion-Donner, bebendes Tremolo in den Streichern, schrille Disharmonien. Dazu menschliche Stimmen in allen Klangfarben – singend und rezitierend, flüsternd und kreischend. Aufflackernde Bilder von Totenköpfen, Tierkadavern, riesigen Insekten oder einem Blut weinenden Autor: Das Mainfranken Theater im Würzburg lässt jetzt die düstersten Albträume wahr werden im Stile einer schwarzen Romantik. In einer Auftragsarbeit des unterfränkischen Theaters hatte sich der Düsseldorfer Komponist Gerhard Stäbler von der Kurzgeschichte „Die Farbe aus dem All“ des Fantasy- und Horrorautors Howard Phillips Lovecraft zu einem abendfüllenden Musiktheater inspirieren lassen. Eine zeitgenössische Komposition, die herkömmliche Grenzen überschreitet und Gänsehaut kreiert, wie es sonst nur die gruseligsten Horrorfilme schaffen.
Das Libretto stammt aus der Feder des Würzburger Intendanten Hermann Schneider, er zeichnet auch für die szenische Einrichtung verantwortlich. Schneider lässt die Darsteller bewusst statisch, fast konzertant auftreten, lenkt damit den Fokus weg von Charakteren hin zu erschreckender Allgemeingültigkeit. Trotzdem sorgen Falko Herolds Bühnenbild und seine Videoeinspielungen für ständige Bewegung: Das Publikum blickt auf ein Bild der Verwüstung, aus dem die Bühne dominierenden Meteoritenkrater leuchten nebelig-wabernde Farben. Die Filmeinspielungen projektiert Herold auf durchscheinende Vorhänge, bewirkt fast dreidimensionale Effekte. Verstärkt wird dieser Eindruck durch klangliche Dreidimensionalität. Das Orchester sitzt klassisch im Graben, Schlagzeug und Chor befinden sich jedoch – je nach Licht sichtbar oder nicht – hinter der Bühne.
Ein Blick auf die Handlung. „Die Farbe aus dem All“ erzählt von einem Meteoriteneinschlag, der merkwürdige Ereignisse auslöst. Die Ernte fällt reich wie nie aus, doch Früchte sind ungenießbar. Tiere mutieren, Menschen verschwinden oder verfallen dem Wahnsinn. Zudem drei Nebenhandlungen: Ein Paar erinnert sich an seine frühere Liebe, eine Putzfrau erzählt eine indianische Legende, ein Tramp reist durch die Zeit. Stäbler nutzt die einzelnen Handlungsebenen für wiederkehrende Klangelemente. Den Tramp begleiten etwa ein Akkordeon, Rhythmus und jazziger Tango. Bei der Putzfrau nimmt der Komponist Bezug auf Robert Schumanns zwitschernd-erzählenden „Vogel als Prophet“, lässt gleichzeitig in Vergangenheit und Zukunft blicken. Vor allem aber baut die Komposition nacheinander auf den vier Elementen Erde, Luft, Feuer und Wasser auf. Das Publikum erlebt geräuschhaft Geatmetes, wirbelnde Glut, rauschhaft Fließendes. Eine wesentliche Rolle spielen in Lovecrafts Novelle zudem die Jahreszeiten. Auch hier begegnet der aufmerksame Zuhörer Bekanntem, denn Gerhard Stäbler nimmt Bezug auf Volkslieder wie „Bunt sind schon die Wälder“.
Für das Philharmonische Orchester Würzburg unter dem Dirigat von Generalmusikdirektor Enrico Calesso dürfte „The Colour“ zu den größten Herausforderungen der aktuellen Spielzeit zählen. Die Musiker beweisen am Uraufführungsabend ein Niveau, das ihnen vor einigen Jahren kaum einer zugetraut hätte. Dass die Würzburger unter Calessos Dirigat Emotion können, ist inzwischen bekannt. Bei „The Colour“ aber beeindrucken sie gerade auch durch markante Betonungen, Entschlossenheit und schwellende Klänge von feinstem Pianissimo bis zu ins Mark fahrendem Donner. Kein Wunder also, dass Calesso an diesem Abend der meiste Applaus inklusive vereinzelter Bravorufe entgegenbrandet. Der Opernchor unter Leitung von Michael Clark überzeugt vor allem durch Exaktheit. Bei manchem Solosänger wünschte man sich eine etwas deutlichere Aussprache, wird Lovecraft zitiert, denn hin und wieder leidet die Verständlichkeit. Auf der Bühne dominieren vor allem der sonor rezitierende Bryan Boyce und der leidenschaftlich mit der Stimme spielende Daniel Fiolka als Farmer Nahum Gardner.
Vielleicht ist Würzburg zu beschaulich, zu konservativ für große Bühnenexperimente: Etliche Sitzplätze im Theatersaal bleiben bei der Uraufführung unbesetzt. Verdient hat dies das gut dreistündige Musiktheater zum 70. Jahrestag der Zerstörung Würzburgs im Zweiten Weltkrieg nicht. Zugegeben: Einfach fällt es nicht, „The Colour“ mehr als drei Stunden zu lauschen. Stäbler scheut nun mal nicht davor zurück, Klänge zu überschreiten, die allgemein als harmonisch gelten. Immer wieder lässt er die Sänger mit den Stimmen, die Musiker mit den Instrumenten spielen. Es raunt und rauscht, säuselt und zischt, rumort und kreischt im Orchestergraben, auf und hinter der Bühne. Doch genau dadurch werden jene Emotionen und Stimmungen erzeugt, die H. P. Lovecraft in seinen Werken zwischen den Zeilen schwingen lässt: düsterer Schauer, unvorstellbares Grauen und eisiges Entsetzen. Oder um es mit den Worten des Autors selbst zu sagen: „The Colour“ bringt auf beeindruckende Weise an einen Ort, der „nicht gut ist in der Fantasie“ und „in der Nacht keine guten Träume“ bringt.