Der „Mothers“-Chor

Eine wichtige Zumutung

Marta Górnicka: Mothers – A Song for Wartime

Theater:Düsseldorfer Schauspielhaus, Premiere:11.04.2024 (UA)Regie:Marta Górnicka

Zur Eröffnung des Theaterfestivals „Fokus Ukraine – 777 Tage“ am Düsseldorfer Schauspielhaus gibt die polnische Regisseurin Marta Górnicka 21 geflüchteten Frauen eine gemeinsame Stimme. Das emotionale Chorstück balanciert an der Grenze des Erträglichen und wird mit langem Applaus gefeiert. Zurück bleibt ein bitteres Gefühl.

Der Moment, kurz bevor es losgeht, ist magisch. Es ist die Sekunde, in der zu spüren ist, dass sich gleich eine gewaltige Energie ihren Weg bahnen wird. Wie auf einem eingefrorenen Bildschirm verharren die 21 Darstellerinnen. Die Schultern gerade, den Blick aus ausdrucksstarken Gesichtern starr in die Ferne gerichtet. „Mothers – A Song For Wartime“ steht auf dem schwarzen Tuch, mit dem Robert Rumas die Bühne umhüllt. Darüber die Übersetzung: „Mütter – ein Lied für Kriegszeiten“.

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Ein Anklagelied

Sie stimmen es an, ihr Anklagelied. Und wie! Auf ein Zeichen von Regisseurin Marta Górnicka, die ihren Chor der Frauen aus einer der vorderen Zuschauerreihen dirigiert, schwappt die Welle der Emotionen in den Saal. Sie stampfen, trommeln und marschieren, singen zarte ukrainische Lieder und lassen kurz darauf ihren Sprechgesang bis zur Grenze des Erträglichen anschwellen. Ein Wechselbad der Gefühle, das Choreografin Evelin Facchini optisch befeuert: Sie zeichnet aus den Körpern bewegende Bühnenbilder, indem sie die Protagonistinnen zu immer wieder neuen Formationen gruppiert.

777 Tage — exakt so lange dauert der russische Angriffskrieg beim Start des europäischen Theaterfestivals „Fokus Ukraine“ am 11. April im Schauspielhaus Düsseldorf schon an. Es hätte wohl kaum ein besseres Eröffnungsstück geben können als das von Marta Górnicka. Die Inszenierung vereint all das, wofür die sieben außergewöhnlichen Theatertage stehen. Es ist vor allem die weibliche Sicht auf den Krieg, um die sich die Kunst aus der Ukraine und dem Exil dreht. Es geht um starke Frauen. „An Marta Górnicka schätze ich sehr, dass sie gegen das Opfer-Klischee anarbeitet“, sagt Festival-Leiterin Birgit Lengers. Die Darstellerinnen verkörpern mit ihrer Herkunft das europäische Gemeinschaftsgefühl des Festivals.

Sie sind keine Bühnenprofis, sondern aus der Ukraine und Belarus nach Polen geflüchtet. 21 Mädchen und Frauen, die jüngste ist zehn, die älteste über 70. Sie sind viele und sie sind vielfältig. Zart und kräftig, weiblich und burschikos, langhaarig und fast kahl rasiert. Johanna Załęcka kostümiert sie in Alltagskleidung. Darin können sie sich wohlfühlen, wenn sie so mutig Seite an Seite auf der Bühne stehen und ihr Innerstes nach außen kehren, damit die Menschheit die Augen nicht abwendet vom Krieg in ihrem Land.

Marta Górnicka und ihre Chor-Arbeiten

Wer die Inszenierungen von Marta Górnicka kennt, der weiß, wie geschickt die polnische Regisseurin Fäden zwischen Individuen spinnen kann, so dass sie zu einer Einheit verschmelzen, deren gewaltiger Erscheinung man sich kaum entziehen kann. Ihr wichtigstes Arbeitsinstrument ist der Chor. Viele Stimmen, die penibel arrangiert zu einem einzigen kraftvollen Organ werden. So tief verbunden äußern sie auch das, was sprachlos macht: die Kriegsgewalt gegen die Körper von Frauen. „Nach einer Vergewaltigung wird der Krieg in deinem Leben nie mehr enden“, sagen sie in ihrer Muttersprache. Die Übersetzung ist auf Deutsch und Englisch in weißen Buchstaben auf dem trauerschwarzen Bühnentuch zu lesen. Dann schwillt der Chor wieder an. „Angst, Hilflosigkeit, Zorn, Zorn“, skandieren die Frauen und wiederholen diesen Refrain immer wieder.

Marta Górnickas Inszenierung ist eine Zumutung. Eine wichtige und bereichernde Zumutung mit einer Intensität, vor der man sich nicht wegducken kann. Schwer auszuhalten sind nicht nur die Monologe der Mütter, in denen sie ihre Geschichten erzählen. Schwer auszuhalten ist auch der Augenblick, als die Enttäuschung über Europas Zurückhaltung in diesem Krieg aus ihnen herausbricht.

Nach einer Stunde entlädt sich die geballte Anspannung in zwei Wörtern: „Never Again“. Deren rhythmische Wiederholung hallt noch lange nach dem intensiven Applaus nach. Zurück bleibt der bittere Gedanke, dass die Frauen ihre Rollen nicht mit den Kostümen in der Garderobe ablegen können. Es ist das Stück ihres Lebens.