Foto: Caroline Matthiessen als Claire Zachanassian am Mainfranken Theater Würzburg © Gabriela Knoch
Text:Christian Muggenthaler, am 17. Dezember 2012
Mit einer bildkräftigen, dynamischen choreografischen Umsetzung hat das Mainfranken Theater Würzburg jetzt einem modernen Klassiker Frischluft zugeführt: Friedrich Dürrenmatts archetypischem Drama vom „Besuch der alten Dame“, in dem es um Rache für alten und die Ruchlosigkeit neuen Verrats geht, bekommt in Anna Vitas getanzter Version neue Unterströmungen. Während das Stück selbst in seiner Sprechtheater-Version vor allem das moralische Dilemma für die Einwohner eines Ortes behandelt, denen reich zu werden versprochen ist, wenn sie einen der ihren opfern, findet das Visualisieren durch den Tanz neue emotionale Hintergründe und einen sinnlichen, physischen Unterbau: Dürrenmatts Denkarbeit handfest gemacht.
Das Stück ist ja schon längst auf irgendeinem Sockel neuzeitlichen Säulenheiligtums platziert, von der es nur noch schwer hinunterzubekommen ist. Claire Zachanassian, schwer reich und massiv zerrüttet vom Liebes- und Eheleben, rächt sich an ihrem Primärlover Alfred Ill, der sie vor langer Zeit hat sitzen lassen, indem sie seinem Heimatort viel Geld verspricht, wenn er getötet wird. Die sagen zwar dem Manne ihre Solidarität zu, stürzen sich aber zugleich in extraordinäre Ausgaben – Vorgänge mit absehbarem Ende. Dürrenmatts Kapitalismus-Parabel über das Wetten auf ökonomisches Wachstum unter Preisgabe jedweder moralischer Werte ist so unübersichtlich nicht, dass nicht auch eine Reduktion der Handlung auf Tanz und Musik sie trüge.
Anna Vita, Würzburger Ballettdirektorin, ist also schlicht dem Handlungsfaden gefolgt, und sie hat starke, kräftige Bilder gefunden, die in die Herzkammern des Dürrenmatt-Stoffs führen. Auf der Bühne (von Sandra Dehler) gibt es zwei Ebenen, eine mit kubistischen Stellwänden, auf die oftmals als zweite Videoeinspielungen projiziert werden, mit der die Handlung entweder nach außen geöffnet wird oder innere Landschaften der Protagonisten zeigt. Da rauscht ein ICE durchs einst so bedeutende Städtchen, da gaukeln Lichtlein Wünsche vor, die sich immer mehr materialisieren: Man träumt vom Eigenheim, vom Motorrad, davon, eine Tennislady zu sein. Und vor den Wunschwänden wabert der Ort, Grau in Grau zunächst, in seiner zwar larmoyanten, aber dennoch eigentlich harmonischen Bedeutungslosigkeit.
Bis sich, ganz in knallpink, Claire Zachanassian, die alte Dame, die rosa Rachegöttin, in diese ärmliche Harmonie hineinschraubt. Die Harmonie zerfällt, die Tänze werden exaltierter, in der Musik – von Karl Amadeus Hartmann, Dmitri Schostakowitsch und Eric Idle – entlädt sich Dramatik. Im Zentrum aller Handlung stehen drei pas de deux, in denen Alfred Ills Beziehungen zu Claire und zu seiner jetzigen Ehefrau ausgedrückt werden: Felipe Soares Cavalcantes zunächst sehr poetischer Traumtanz mit Caroline Matthiessen, durchsetzt mit Bildern der Erinnerung, wird kurz vor dem Ende noch einmal aufgenommen, jetzt aber als endgültiger Riss, als Unmöglichkeit des körperlichen Zusammenkommens; Cavalcantes Tanz mit Cara Hopkins wiederum, die seine Frau verkörpert, ist von tiefer, expressiver Leidenschaft. Der altbekannte Stoff bekommt solcherart ganz neue emotionale Dimensionen, erhält tänzerische Ausformungen, Formulierungen und Formationen, die ihm gut tun und eine völlig neue Richtung verleihen: Dürrenmatt revisited.
Anna Vitas Choreografie ist präzise, stimmig und griffig. Wenn Claire erstmals auftaucht, hat sie schon einmal die Bewohner des Orts im Griff und regelt ihre Bewegungen, so wie Eun Kyung Chung und Yumiko Fukuda als ihre Diener Toby und Roby, zwei schwarze, schräge Vögel, ganz in ihrem Dienste stehen. Allmählich sickert ihr Einfluss sichtlich durch, weil immer mehr pinke Anteile in die vormals graue Kleidung fließen (Kostüme: Kristopher Kempf). Und spätestens, wenn des Pfarrers Kollar nicht mehr weiß, sondern rosa ist, weiß Alfred, wie sein Stündlein geschlagen hat. Vor ihm scheint die Pracht der Kirche mit Kreuz, hinter ihm rafft sich die rosa Menge und erdrückt ihn schließlich. Geld regnet hinab auf die Besucher eines Ortes, der sich eines Einwohners entledigt hat. In Würburg ist aus dem „Besuch der alten Dame“ eine alterslose Legende geworden, die im Tanz einen guten Ort gefunden hat.