Text:Ruth Bender, am 21. Februar 2012
Eigentlich sieht man an diesem Theaterabend dem Entstehen einer Kunst-Installation zu: Im Innern des Zirkels, den die Zuschauer in der Garage im Thalia Gaußstraße bilden, hängt ein Ensemble aus Leuchtstoffröhren mit Haken. Nach und nach finden daran allerlei Gegenstände Platz, Erinnerungsstücke, die an eine namenlose Sie gemahnen sollen – und an denen sich vor allem die eigene Assoziation, die Geschichten des Betrachters entzünden: ein vergilbter Handschuh, ein geknülltes Taschentuch, ein Vierfarbstift, dessen Minen – bis auf die grüne – allesamt leer sind, ein Plastikregenmantel, ein Lippenstift…
Es sind sehr banale Dinge, die Katharina Schmitt in der Szenenfolge „Jugendbildnis“, entstanden als Auftragsstück für das Thalia Theater, als Zeugen eines auf unerklärte Weise verschwundenes Lebens anführt. Dinge ohne Merkmale oder individuelle Spuren. In jedem Krimi haben Lippenstiftreste und blutige Taschentücher mehr zu erzählen. Und auch das, was die drei Schauspieler (Marie Löcker, Nadja Schönfeldt, André Szymanski) dazu berichten, schwankt zwischen Unschärfe und Belanglosigkeit: Ein Kind auf Rollschuhen, mit Schultüte, roter Wollmütze. Eine Frau, die keine Geheimnisse hatte, aber jede Woche eine neue Haarfarbe.
Aber genau darum geht es in der knappen Szenenfolge, die Schmitt aus den Ergebnissen eines Jugend-Schreibworkshops destilliert und die Regisseur Benedikt Haubrich geschickt zwischen Performance und Installation ansiedelt: um die Unzuverlässigkeit der Erinnerung, die Austauschbarkeit der Bilder, die Klischees, die in jedem Lebenslauf wohnen. Die Sprecher verlaufen sich in detailversessener Beschreibung – und nie ist so ganz klar, ob sie Individualität etablieren oder vortäuschen wollen, Erinnerungen anstoßen oder einfach Spuren verwischen. In dringlichem Tonfall („Sehen Sie“, „Erinnern Sie sich“) fordern sie die Zuschauer auf, sich ein Bildnis zu machen. Von der Verschwundenen, deren Schicksal sich an diesem Abend so wenig klärt wie ihre Identität? Oder von sich selbst?
Rekonstruktion ist hier nicht der Punkt, und das ergibt ein reizvoll rätselhaftes Spiel. Wie Marie Löcker und Nadja Schönfeldt im animierenden Ton manipulativer Museumsführer das Banale mit Bedeutung aufblasen, die kleine Erinnerung zum großen Event wird. Wie Szymanski mit ein paar kleinen, eitel verhuschten Gesten von der Vorleserin erzählt, die ihm, dem kurzsichtigen Evolutionsbiologen aus seinen Fachbüchern vorliest – und das Interesse von der Erzählten sehr bald auf den Erzähler hinübergleitet.
Fürs Theater ist die Sprache eigentlich zu blass, das Thema zu wenig geformt, fehlt die Person, die hier so bewusst verwaschen bleibt. Interesse wecken da höchstens Sätze wie „Sie hat an ihrem Verfall gearbeitet“ – und vielleicht belegt auch das nur unseren Zuschauer-Voyeurismus. Als Installation aber funktioniert das Stück in seiner offenen Form trefflich. Und Regisseur Haubrich gelingt ein reizvolles Vexierbild um trügerische Erinnerung und Selbstbespiegelung. Das ließe sich womöglich sogar ausbauen. Das Licht jedenfalls geht aus, als die Schauspieler fordernd ans Publikum herantreten, auf dem Weg, dem Spiel in der Realität eine neue Dimension zu erobern: „Und jetzt geben Sie uns etwas von sich…“