Foto: Szene mit Paul Trempnau und Nathalie Thiede © Thomas Müller
Text:Jens Fischer, am 27. Mai 2024
Die Uraufführung von Nis-Momme Stockmanns „Singularis“ am Deutschen Theater Göttingen funktioniert durch die Regie von Dominique Schnizer trotz mäßig textlicher Tiefe des Autoren. Gezeigt wird die hilflose Selbstfindung einer Generation der Mitzwanziger in digitaler Vereinzelung.
Schwarzer Raum, schwarze Drehbühnenaufbauten, umlungert von dunklen Gestalten. Düster ihre Zukunftsaussichten in einer finster beschriebenen Gegenwart. Im Mittelpunkt: Ava (Nathalie Thiede) und Emmi (Stella Maria Köb). Sie hausen in einer schäbigen Wohnküche. Früher waren beide mal „cool“, na ja, „fast cool“. Heute jobben und feiern sie so herum, langweilen sich bei der Liebelei mit einem Spinnen-Nerd und Sex mit einem total abgerockten Wesen. Rührend hilflos rotieren die Mitzwanzigerinnen in ihrer Ich-Leere, tun sich leid, verquickt mit allem Elend der Welt, und warten auf das Ende der Jugend als Beginn des Lebens.
Vereinsamung einer Generation
„So kann es nicht weitergehen“, brüllt Emmi ihre Mitbewohnerin an. Bereitet die sich doch seit zehn Semestern mit der Lektüre von „Psychologie heute“ vergeblich auf einen Studienplatz für Psychologie vor – und hängt völlig durch. Emmi hingegen macht unter anderem aus Scheiße Kunst – im Wortsinne – und sucht seit Jahren vergeblich nach Kunden, Galeristen und irgendwie Interessierte für ihre Arbeit. Aber verkaufte sie nicht gerade das Bild „Votzen-Pflaster 7“? „Nee – die wollte nur den Rahmen.“ Schon hat Nis-Momme Stockmann auch die Witzigkeit in sein Auftragswerk fürs Deutsche Theater Göttingen eingeführt. „Singularis“ heißt es. Was der Begriff in der Astronomie bedeutet, wird im Laufe des Stücks andeutungsweise erklärt, vor allem aber geht es um den jungen Homo sapiens singularis.
Einsamkeit kann zwar Rückzugs-, Schutz- und Erkenntnisraum sein, aber gerade die am stärksten vernetzte, ständig erreichbare, mehrere Chats simultan bedienende Generation ist besonders von den negativen Aspekten der Vereinzelung betroffen, den Selbstzweifeln, Ängsten und der Mutlosigkeit. So ergeht es auch Ava und Emmi, wirkliche Verbindungen bauen sie nicht auf und konsumieren Beziehungen eher als sie zu erleben. Aber nicht nur die sozialpsychologische Analyse der Überforderten, Gescheiterten, Gebrochenen interessiert Stockmann, dem Drama der Selbstfindung/-ermächtigung widmet er sich auch als Traumatherapie.
Von Küchenpsychologie zu Realitätsverlust
Regisseur Dominique Schnizer nimmt entsprechende Andeutungen im Text zum Anlass für ein kraftvolles Bild: Blutroter Stoff quillt unter dem Kleid von Ava hervor, ein stummer Schrei ist ihr ins Gesicht geschrieben. Immer wieder säuseln zudem Hits von Abba, der Lieblingsband von Avas Vater, in beunruhigender Abmischung durchs Geschehen. Nicht nur die Verlorenheit in den Möglichkeiten digitalisierten Lebens, auch Missbrauchserfahrungen können Identitätsfindung paralysieren. Dieser Aspekt bleibt untergründig virulent, während sich die Inszenierung überbordend fidel hinfort stürzt aus ironieputzigem Küchenrealismus/-psychologie – hinein ins surreale Terrain. Ein Auslöser: Die Protagonistinnen bringen schon zum Frühstück die unterm Tisch abgestellte Wodkaflasche zum Einsatz, ergänzen den Genuss mit Plastikflaschenbier und synthetische Drogen werden auch nicht verachtet. Da kommt das Realitätsbewusstsein schonmal durcheinander. Stroboskopblitze deuten zudem atmosphärische Störungen oder extraterrestrische Einflüsse an.
Schon werden Avas Alpträume zur Bühnenrealität, ihre Visionen bedrängen sie analog. Bettler erscheinen plötzlich als Philosophen, räsonieren über den Sinn des Lebens und den Anfang des Universums. Geheimnisvolle Nachrichten kleben am Kühlschrank und ein magisches „Portal“ öffnet sich für Blicke in die Zukunft und Vergangenheit. Immer schneller dreht sich die Bühne. Raum und Zeit verwirbeln in Avas angstgepeinigtem Denken, sie rast durch die nur noch kürzest angespielten Handlungsebenen. Vielleicht auch ein Zeichen für ihre Nichtaufgehobenheit in der Welt. Man könnte auch sagen: Die Entwicklung von Geschichte und Personal wirkt eher unausgegoren.
Textrettung durch Regie
Stockmann nimmt die Wortgewalt seines formulierungszauberisch elaborierten Jargons zurück, verzichtet auf die in Bewusstseinstiefen der Figuren hinabsteigenden Monologe, setzt auf flotte Ping-Pong-Dialoge stilisierter Alltagssprache und wirft die großen Fragen weniger poetisierend auf, sondern notiert mit wütender Direktheit, warum er ein Stück zur Neuorientierung von Lebenseinstellungen geschrieben hat – das klingt in einer Art anklägerischem Moritatengesang dann so:
„Mit einem Bein im Burnout. Mit dem anderen schleppen Sie sich über die Alleen der geplatzten Träume. Geistig matt von den täglichen Demutsübungen. Körperlich betäubt von den Aufputsch- und Beruhigungsmitteln, die sie brauchen, um überhaupt noch irgendwie durchs Leben zu kommen. WARUM? Niemand treibt Sie dazu an. Außer der selbstaufgehängten Karotte – die leeren Versprechungen einer idiotischen und abgeschmackten Welt, die immer nur das Idiotischste und Abgeschmackteste von allem in Aussicht stellen: SICHERHEIT! Und wahres, schönes, freies Leben verunmöglicht: Leben als Abenteuer, als Experiment, als Haltung. „ICH LEBE“ heißt: „Ich trete in Erscheinung“.“
Und genau das gelingt Ava am Ende. Sie löst sich von der Vergangenheit, fühlt sich „frei“. Abnabelung von Emmi, Auszug von Emmi und Einladung an den Freund, bei ihr einzuziehen. Ganz entspannt kann nun auch Abba gehört werden, „One of us“. Vollendeter Happy-End-Kitsch. Aber liebevoll, rührend, nicht peinlich. Schnizer hat sehr unterhaltsam das Beste aus diesem inhaltlich dann doch eher schlichten Aufruf zum Aufbruch gemacht.