Foto: "Four Quartets", Choreographie von Goya Montero. Im Bild: Hiroki Ichinose, Max Levy, Maeva Lassere, Oscar Alonso, Sayaka Kado, Natsu Aasaki und das Apollon Musagète Quartett © Jesús Vallinas
Text:Dieter Stoll, am 30. April 2016
Zunächst ist da für den langen Moment des Einstiegs nur eine Stimme und ein Körper: Goyo Montero stellt zu Beginn seines neuen Tanz-Stückes „Four Quartets“, das frei nach T.S. Eliots Poem „Burnt Norton“ den alles umfassenden Stillstand der Zeit als Last und Chance beschwört, seine Vorzugs-Solistin Sayaka Kado auf die leere Bühne und lässt statt der erwarteten Musik die Stimme des gealterten Dichters im Original erklingen. Schleppend spröde klingt sie, fast distanziert sachlich gegenüber dem eigenen Text, und ist doch Initialzündung zur befreienden Bewegung. Für den Choreographen wohl ein Gedankenblitz von Schöpfungsgeschichts-Erleuchtung, wenn er in diesem Tonfall der mürben Weisheit gleich „die Stimme Gottes“ vermutet. Zum Glück geht es auch ein paar Nummern kleiner, also der pragmatischen Bühne mit gleicher Empathie zugewandt wie der Vermutung des Unfassbaren.
Der Nürnberger Ballettdirektor, der nach seinen Erfolgen mit psychologisch durchkneteten Handlungsballetten zu Beginn der laufenden Saison die Wende zum „reinen Tanz“ proklamierte, wirft wohlsortierte Spotlights auf Gedanken und Emotionen, formt Träume zu Bildern und gerät dabei oft nahe an ein Netzwerk imaginärer Handlungsfäden. Die Meditations-Lyrik von Eliot lädt er auf mit Streichmusik von Brahms und Schubert, die er als treibende Dynamik und entrückte Schönheit gegeneinander stellt, durchbrochen wiederum von weiteren Proben wegweisender Dichter-Worte. Manche wirken wie Glaubenssätze für die Choreographie, wenn T.S. Eliot etwa „weder Fülle noch Leere, nur ein Flackern“ anmahnt. Andererseits fährt Montero theatralisches Geschütz in Fülle auf, wie er die Musiker des polnischen Apollon Musagète Quartett zu rollenden Tanz-Partnern macht. Sie sitzen hoch auf mobilen Podesten, die in der unteren Etage über bespielte Gefängniszellen mit durchlässigen Gummi-Gittern verfügen, elastisch im Umgang mit Verlustangst und Freiheitdrang. Das Spannungsverhältnis zwischen Musikern und Tänzern wird immer wieder neu befragt, bis der ganze Klangapparat zu einer Schutz und Bedrohung zugleich symbolisierenden Rund-Arena zusammengeschoben ist. Die szenische Ausbeute ist reich an dunklen Andeutungen, in denen die sechs Tänzer auf der Leuchtspur von Solo-Miniaturen und Pas-de-deux-Ahnungen stets als Kollektiv wahrnehmbar bleiben, aufgefädelt zu gemeinsamer Suche nach dem Trost des Spirituellen.
Unübersehbar ist das Montero-Werk von 2016 auch als Spiegelung von Christian Spucks Totentanz-Variante „das siebte blau“ aus dem Jahr 2000 deutbar. Es ist das letzte und größte Stück dieses mit „Kammertanz“ denn doch etwas tiefstaplerisch betitelten Abends, der die Feinmechanik der Kammermusik in die Patenschafts-Pflicht nimmt. Das funktioniert durchaus, aber es ist eben noch mehr. Der Züricher Ballettchef hat auch mit Live-Streicherklang gearbeitet, dem berühmten Schubertschen „Mädchen“ viele Tode zur vermeintlich letzten Partnerschaft zugeteilt und in dieser herausgeforderten Unendlichkeit das Tabu-Thema aus aller Verkrampfung erlöst. Im Humor, der im Zweifel immer übers kontemplative Irgendwie triumphiert, steckt der größte Unterschied zwischen dem munteren Erzähler Spuck und Monteros stets umwölkt bleibenden Tiefenbohrungen. Die Nürnberger Compagnie ist in der Nachempfindung des einst in Stuttgart entstandenen Stückes ebenso souverän wie in der Maßarbeit ihres Spartenchefs.
Zu Monteros bedeutenden Leistungen gehört, dass er für seine „Zwei plus eins“-Programme, also die Kombination einer eigenen Uraufführung mit den gesetzten Produktionen von zwei arrivierten Kollegen, auch Größen aus anderer Dimension einschließt. In diesem Fall „Approximate Sonata“, von William Forsythe schon 1996 auf der Höhe seiner Frankfurter Zeit entworfen. Ein zeitloses Bewegungs-Mirakel aus rätselhaften Wortfetzen und Klangspurenelementen in Pas-de-deux-Serie. Im ständigen Wechsel der Dynamik baut sich in hochkomplexen Umschlingungen von entkernter Tradition und aufblühender Umdeutung eine Wunderwelt der Kürzel auf. Staunenswert artifiziell heute wie vor 20 Jahren und dabei in allergrößter spielerischer Gelassenheit beim Umgang mit der Auslese-Artistik. Für die große Pose gibt es da, wo sie ins Pathetische zu wuchern droht, einfach einen Schubs. Forsythe behält Witz auch im Extrem, und die acht grandiosen Nürnberger Solisten (Sandra Guenin, Maeva Lassere, Esther Pérez, Natsu Sasaki, Max Levy, Luis Tena, Christian Teutscher, Max Zachrisson) gehen voll auf in der mächtigen Herausforderung. Montero sieht das Stück des verehrten Forsythe als Brücke zwischen seinem und Christian Spucks Stück. Mag sein, vor allem aber ist es ein Motor, der dem Tanztheater auch bei diesem TÜV-Termin unermüdlich Energie spendet.
Dass Nürnberg damit erstmals in den Genuss einer Forsythe-Choreographie gekommen ist, wie das in Ankündigungen und im Programmheft mehrfach stolz verkündet wurde, ist allerdings nicht richtig. Vor gut zwanzig Jahren, als Jean Renshaw das kurzzeitige Experiment „Tanzwerk Nürnberg“ mit dem Opernhaus-Ballett leitete, war sie auch schon im Frankfurter Repertoire fündig geworden. Sei`s drum – gute Ideen kann man gar nicht oft genug haben.