Foto: Ein einmaliges spartenübergreifendes Projekt in Essen: Blicke nicht zurück. © Philharmonie Essen
Text:Stefan Keim, am 26. Juni 2012
Einen Mythos an einem Abend aus drei verschiedenen Perspektiven zu beleuchten, ist ein spannendes Konzept. Vor allem wenn mit Monteverdis „L´Orfeo“ die älteste noch im Repertoire befindliche Oper auf eine Uraufführung von Elfriede Jelinek trifft. Zum Abschluss des Abends tanzte das Aalto-Ballett dann noch mit „Cherché, trouvé, perdu“ eine allgemeinere Version der Geschichte von Orpheus und Eurydike.
Zunächst die Oper: Zunächst spielt das Balthasar-Neumann-Ensemble ohne Dirigenten. Ganz entspannt schlendert die Theorbe während der Ouvertüre in den Saal. Die Bläser haben erst später zu tun und stellen sich dann an die Seite. Ohne einen Regisseur gelingt eine faszinierende halbszenische Aufführung. Auch die Sänger treten in fließender Bewegung auf und ab, mal verharren sie in einfachen, aber eindrucksvollen Bildern. Dirigent Thomas Hengelbrock schafft eine meditativ-magische Atmosphäre. Der Bühnenhintergrund ist blau, die Spielfläche in ein goldenes Licht getaucht, das an die Abendsonne erinnert. Hengelbrock dirigiert lange Bögen, horcht den Melodien nach, Emotion und Reflexion werden eins. Aus Monteverdis leisen, feinen Tönen schlagen die jungen, ausdrucksstarken Sänger nur manchmal dramatische Funken. Oft gelingen Passagen purer Schönheit, nachdenklicher Trauer, philosophischer Erkenntnis. Nikolay Borchev singt Orfeo intim und natürlich, Anna Bonitatibus hat einen wunderbaren Auftritt als Persephone, die Herrscherin der Unterwelt, die aus der Hölle einen Ort des Mitfühlens und der Warmherzigkeit macht. Am Ende tritt Hengelbrock zu den Sängern und singt den Schlusschor mit, während die Instrumentalisten allein das Stück zu Ende bringen. Alle agieren in einem Geiste, die Aufführung kommt der Perfektion sehr nahe.
Elfriede Jelinek erzählt die Orpheus-Geschichte völlig anders, aus der Sicht von Eurydike. Sie hat die Nase voll von dem Mann, den sie nur den „Sänger“ nennt, einem Popstar, den ständig eine Horde nervender, kreischender Fans verfolgt. Als Eurydike von der Schlange gebissen wird, findet sie sich schnell damit ab, zum Schatten zu werden. Mehr noch, sie genießt es, endlich von allem Körperlichen und Weltlichen befreit zu sein. Im Schattendasein findet sie zu sich selbst, der Tod ist der Ausdruck iher inneren Leere. Die Schauspielerin Johanna Wokalek sitzt auf einem Kleiderberg. Die Jelinek-Eurydike ist eine Modefanatikerin und kauft immer neue Klamotten, um dem Nichts, als das sie sich empfindet, eine neue Hülle zu geben. Die hochschwangere Schauspielerin liest und spielt gedankenklar, gliedert die komplexen Sätze, lässt in ihrer eigenen Strichfassung manche Derbheit weg. Jelinek für Einsteiger, das Stück ist kein Textflächenmonstrum, sondern ein richtiger Monolog. Das Konzept der Essener Philharmonie funktioniert, die verschiedenen Perspektiven zeigen den Reichtum des Mythos von seinem philosophischen, spirituellen Gehalt bis zur gnadenlosen, boshaft ironischen Analyse Jelineks. Die aber auch – zumindest in der Zeichnung Eurydikes – eine warmherzige Seite hat.
Claudio Monteverdi: L´Orfeo
Elfriede Jelinek: Schatten (Eurydike sagt)
Patrice Delcroix Cherché, trouvé, perdu