Foto: Gruppenbild in Luk Percevals Familienstück bei der Ruhrtriennale © Armin Smailovic
Text:Detlev Baur, am 8. September 2015
In der Gießhalle im Duisburger Landschaftspark-Nord kann es an einem Spätsommerabend schon frisch werden. Vor riesigen Rohren war diese Halle vermutlich auch deshalb nicht völlig eingemauert, damit die Hitze beim Stahlgießen schneller entweichen konnte. In “Liebe”, dem Start von Luk Percevals Zola-Trilogie, wird diese hitzige Vergangenheit besonders gegen Ende zum eindrücklichen Hintergrund, wenn die so bedauerliche wie im Umgang mit den Männern unkluge Gervaise (Gabriele Maria Schmeide) durch den Alkohol zerstört wird. Das Arbeiten des Gifts in ihr scheint hier mit den vergangenen hitzigen Arbeiten vor Ort in Verbindung zu treten. Ansonsten ist die Bühne von Annette Kurz für Luk Percevals Inszenierung erkennbar auch für andere Spielräume geschaffen – im Grunde handelt es sich um eine Produktion des Hamburger Thalia Theaters, die vorab in Duisburg zu sehen ist. Die dreizehn Akteure, alle spielen Angehörige einer Groß-Familie, berichten in Percevals Textfassung aus den Bänden „Der Totschläger“ und „Doktor Pascal“ aus Zolas Romanzyklus „Die Rougon-Macquart“ jeweils von den Schicksalen der anderen Familienmitglieder.
Das epische Spiel enwickelt sich durch diese Verzahnungen, die zugleich Distanz wie eine subjektive Färbung der Geschichte ermöglichen, überraschend dramatisch; jedes Erzählen über den anderen markiert somit auch die eigene Position. Beispielsweise beim weitgehend inaktiven Jacques, einem Sohn von Gervaise (Rafael Stachowiak), der Alkoholismus, Gewalt und Verfall der Familie erzählt, und dabei seine eigene, so distanzierte wie leidende Position ausspielt. Erzählerische Hauptfigur bei Zola ist Dr. Pascal (Stephan Bissmeier); er hält sich eigentlich distanziert von der Familie, ist aber andererseits für seine (halb-)wissenschaftlichen genetischen Studien am Studienobjekt seiner Familie interessiert – womit er in der Inszenierung auch eine Art Spiegelbild für Zola und dessen eigenwillige deterministische Theorien wird. Spätestens als Pascal seiner Liebe zur Nichte (Marie Jung) nachgibt, ist jedoch auch dieser vornehm distanzierte Mann mitten im Getriebe der Konflikte. Beide Familienstränge, um Gervaise und um Dr. Pascal, ergänzen und spiegeln sich in relativ kurzen Szenen gegenseitig. Das ist textlich beeindruckend kombiniert und wird von einem starken Ensemble auf der klaren Bühne unaufdringlich, aber intensiv gespielt.
Auf einem Holzboden mit einer etwa zwei Meter hohen Bodenwelle wandeln die Figuren am Abgrund oder schaukeln an einem Strick. Verbunden werden die Familienteile durch Barbara Nüsse als Mutter des Arztes; die großartige Schauspielerin stellt auch die Schwägerin von Gervaise und den grotesken „Leichenbesorger“ wunderbar schaurig dar. Auf dem gewellten Parkett bewegen sich also schon recht finstere und verstaubte Figuren, die nicht unbedingt sympathisch sind und auch durch die Kostüme (Ilse Vandenbussche) aus einer vergangenen Zeit stammen. Doch durch das souveräne und zugleich einfühlsame Spiel – unbedingt erwähnenswert ist auch Tilo Werner als einfacher, freundlicher und später dem lähmenden Dauerrausch verfallener Gatte der Gervaise – wecken auch die dumpfe Gier der Gestalten und ihre (nicht unbegründete) Angst vor dem sozialen Abstieg ein mitfühlendes Interesse beim Zuschauer. Am Ende sagt sich Pascal auf Betreiben der Mutter wieder von seiner geliebten Nichte los. Der Skandal ist zu Ende, die Liebe auch; die Dramen werden weitergehen, wir sind gespannt auf die Fortsetzung.