Foto: Die Uraufführung von Charlotte Roos' "Wir schweben wieder" am Theater Bielefeld. Jopt, Graser, Giebeler, Herzberg © Philipp Ottendörfer
Text:Jens Fischer, am 23. September 2013
Was für ein Kabinett antihaftbeschichteter Großstadtneurotiker! Da ist Maria: normal nett, immer noch nicht fett, fast hübsch, kann denken, hat früher auch mal was für andere Menschen empfunden, ist nun aber, bis zur Unkenntlichkeit durchschnittlich, im banalen Alltag verschwunden. Chronisch allein joggt sie durch ihre kleine Welt, die keine Schnittmenge zur großen Welt aufweist. Ein Neid-Stachel, der Aggressionsbereitschaft wachkitzelt. Die einzige Form der Kommunikation, die ihr noch möglich scheint. Maria will all denjenigen eine „reinhauen“, die mehr vom Kuchen gesellschaftlichen Reichtums abbekommen als sie. Und klatscht den Nächstbesten Apfelkuchen in die Gesichter. Davor geschützt ist Laura. Hübsch müde gelangweilt hockt sie schalldicht abgeschottet in einer Simultandolmetscherkabine und radebrecht eine Globalisierungsabrechnung ins Deutsche, die Hugo Chávez 2009 beim Weltklimagipfel in Kopenhagen referierte. Mehr indifferentes Nachbuchstabieren denn anteilnehmender Übersetzungsdialog. Lauras Freund Carl ist mit allen Eigenschaften ausgestattet, die das Psychologielehrbuch für Depressive auflistet. Manisch redet er darüber. Während neben ihm Nachtclub-Tänzerin Edith sitzt, bei der er eigentlich Sex kaufen wollte. Sie aber redet manisch davon, durch Bildung den sozialen Aufstieg zu schaffen. Miteinander ins Gespräch kommen beide nicht. Bruno will derweil seine Beziehung zum Alt-68er-Vater aufarbeiten, der ihn als „dumpfen Bourgeois“ verachtet – und die Briefe des Sohnes mit Beschimpfungsanrufen beantwortet.
Die Figuren nehmen sich alle sehr wichtig. „Ich“ scheint ihr Lieblingswort zu sein. Man darf sich diese zugespitzte Gesellschaftsanalyse als monadologisches Nebeneinanderher vorstellen, alle trudeln kontaktlos in ihren blickdicht abgeschotteten Realitätsblasen durchs überhitzte Dasein. Dementsprechend komponiert Autorin Charlotte Roos ihr Stück. Ob nun Ausrufe, Bekenntnissätze und zu Textflächen gewalzte Befindlichkeitskundgebungen: Alles wird hart auf Kante und undurchlässig gegeneinander komponiert, ist immer nur egomanisches kreiseln um die eigenen Interessen, schließt andere Perspektiven grundsätzlich aus. Weswegen das Dazwischenblenden der Chávez-Rede – wider die kapitalistische Logik der nationalstaatlichen Egoismen, für das marxistische Ideal kommunistischen Miteinanders – durchaus Sinn macht. Das Private spiegelt das Politische – und umgekehrt. Und soll die Sehnsucht nach Beziehungen wecken, die nicht durch Gebrauchs-, Tausch-, Geldwert bestimmt werden. Damit alle mal spüren, wie toll sich das anfühlt, verurteilt Roos den armen Carl zum Selbstmord durch den Strang; Bruno, Edith und Maria werden zu einer akrobatisch kühnen Rettungsaktionen abkommandiert. Alle für einen, einer für alle. Grotesk komisch balancieren sie im Gleichgewicht und rufen den Stücktitel aus: „Wir schweben wieder.“ Dann stürzen alle in den Tod. So ist das mit den Utopien von Chávez, Marx & Co. Die überlebende Laura versteht davon nichts, wolle das Erbe aber pflegen, bekennt sie im Epilog.
Diese dramatische Konstruktion ist überzeugend schlicht. Etwas aufdringlich wirkt die stets präsente Brillenmetapher. Die Lust, aus der Vereinzelung auszubrechen, wird mit dem Wunsch illustriert, durch eines anderen Brille schauen zu wollen. Obwohl doch gerade dann nichts zu sehen ist, da die Brechkraft fremder Gläser zu den eigenen Augen nicht passt und alles verwischt. Eher verzaubernd wirkt die spartanische Werkstattinszenierung auf dem schmalen Pfad zwischen zwei Zuschauerblöcken. Obwohl es keine vielschichtigen Persönlichkeiten, nur Thesenträger der Vereinzelung gibt, setzt Uraufführungsregisseur Dariusch Yazdkhasti nicht flott auf witzig schrille Abrechnung. In zart karikierenden Kostümen und mit sanfter Ironie darf sich das Ensemble den Figuren nähern. Alle Darsteller folgen den Monologen und dem als Dialog getarnten Aneinandervorbeireden mit viel Sympathie – bis zur Empathie. Schmunzelnd merkt man beim Zuschauen, dass mit der Eintrittskarte auch eine Brille der Menschenfreundlichkeit ausgehändigt wurde. Kein Wunder, dass einem Edith, Maria, Carl, Bruno, Laura ans Herz wachsen – während das politische Theater drumherum verschwimmt.